Angst auf dem Nachhauseweg

Ich beobachte, wie die Straßenlaternen angehen, während ich nach Hause laufe. Ich war mit einer Freundin spazieren und freue mich darauf, den restlichen Abend auf der Couch zu verbringen. Doch dann spüre ich ein unangenehmes Gefühl in meinem Brustkorb. Plötzlich bin ich angespannt, ich nehme jede kleine Bewegung wahr, mein Fokus wird schärfer. Ich schalte die Musik auf meinem Handy aus und die Kopfhörer in meinen Ohren werden zur bloßen Tarnung: Bitte nicht ansprechen, ich höre nichts.

Mein Blick geradeaus, starre Mimik. Bloß niemandem ins Gesicht sehen, auf keinen Fall lächeln. Vor mir stehen drei Männer auf dem Gehweg, ich kann nicht mehr ausweichen. Zwei von ihnen lehnen links an einer Hauswand, einer steht rechts vor einer Reihe parkender Autos. Es sieht aus wie ein winziges Spalier. Ich muss zwischen ihnen hindurch, ich kann die Straßenseite nicht wechseln. Sie sehen mich, aber sie weichen nicht aus. Sie haben aufgehört zu reden. Als ich vorbei bin, höre ich einen von ihnen leise etwas sagen. Ich lausche nach Schritten. Niemand folgt mir. Ich spüre, wie die Anspannung nachlässt, mache die Musik wieder an, aber höre sie nur noch leise.

Jede Frau und jeder weiblich gelesene Mensch, den ich kenne, kennt solche Situationen auf dem nächtlichen Nachhauseweg. Wir verzichten auf unsere Lieblingsplaylist, um Geräusche hinter uns zu hören, wir beobachten Schatten und meiden dunkle Straßen oder Lücken zwischen Hecken. Wir tragen Pfefferspray bei uns oder umklammern unseren Schlüsselbund. Wir analysieren die S-Bahn-Station genau, bevor wir uns einen Platz zum Warten suchen und jemanden anrufen, wenn wir uns unwohl oder beobachtet fühlen. Oder wir tun einfach so: führen Selbstgespräche mit dem Handy am Ohr, damit wir uns sicherer fühlen.

Am 3. März besuchte die Britin Sarah Everard eine Freundin und lief nachts durch London nach Hause. Dort kam sie nie an. Am 10. März fand man die Leiche der 33-Jährigen in einem Waldstück abseits der Stadt. Ein Polizist soll die junge Frau getötet haben.

Nach dem Mord kam es zu einer Welle der Empörung auf den Straßen Londons und in den sozialen Netzwerken weit über die Landesgrenzen hinaus. Wie kann es sein, dass Frauen und weiblich gelesene Menschen 2021 immer noch Angst haben müssen, wenn sie alleine nach Hause gehen?

Die Angst, die in solchen Momenten leise in mir hochkriecht, ist die Angst vor Gewalt. Der Gedanke an das, was Menschen wie Sarah passiert ist, was mir auch passieren könnte.

Denn es geht nicht darum, was sie von mir unterscheidet, nicht darum, was sie anhatte in dieser Nacht, warum sie kein Taxi gerufen hat oder um andere Thesen aus dem 1×1 des Victim-Shamings. Das alles spielt keine Rolle. Es gibt einen viel banaleren Grund: wir sehen weiblich aus.

Wenn ich auf dem Nachhauseweg Angst habe, dann nicht vor anderen Frauen oder weiblich gelesenen Personen, nicht vor Gespenstern oder bellenden Hunden. Ich habe Angst vor Männern, vor ganz normalen Männern.

Auf Instagram posteten in den darauffolgenden Tagen unzählige Cis-Frauen, trans*Männer und Frauen sowie nichtbinäre Menschen, ihre Erfahrungen und teilten Beiträge wie den der Personal Trainerin und Influencerin Lucy Mountain, in dem nur ein Chatfragment zu sehen ist: „Text me, when you get home xx“ – Schreib, wenn du zu Hause bist.

Warum wurde gerade dieser Post so oft geteilt? Weil wir diese Nachrichten kennen. Ich habe Hunderte davon auf meinem Telefon. Jetzt habe ich sie zum ersten Mal auch auf den Screenshots von Freund*innen, Kolleg*innen und anderen weiblich gelesenen Menschen gesehen, die ich nicht persönlich kenne. Unsere Chatverläufe sind ein homogener Spiegel gesellschaftlichen Versagens.

Nach dem Mord an Sarah Everard trendete der Hashtag #notallmen auf Twitter. Ausgerechnet jetzt eine Diskursverschiebung. Ausgerechnet jetzt gekränkte männliche Egos: Ich würde sowas niemals tun! Warum sollte eine Frau oder weiblich gelesene Person Angst vor mir haben?

Als Gegenwelle entstand kurzerhand der Hashtag #toomanymen auf Social Media.

Wir wissen, dass wir nicht vor allen Männern Angst haben müssen. Wir wissen, dass die meisten von ihnen keine Angst verbreiten wollen. Aber wir wissen nicht, ob der eine Mann, der nachts hinter uns läuft, eine Ausnahme ist. Das Leben ist kein Cartoon, in dem der Bösewicht fiese Augenbrauen hat. Kein Märchen, in dem es einen bösen Wolf gibt. Sah Sarah Everads Mörder aus wie ein Mörder? Nein, er sah einfach nur aus wie ein Mann.

Ich weiß nicht, wer diese drei Männer waren, denen ich auf meinem Nachhauseweg begegnet bin. Vielleicht waren es drei Männer, die Gewalt jeder Form ablehnen. Vielleicht waren es drei Freunde, mit denen ich mich auf einer Party blendend verstehen würde.

Vielleicht aber auch nicht.

Und auch wenn diese Möglichkeit gering ist – wer könnte es mir in diesem Moment versichern?

Der britische Premierminister Boris Johnson fordert nun mehr Videoüberwachung, um Frauen und weiblich gelesene Menschen in Großbritannien besser zu schützen. Eine reine Symptombehandlung. Viel wichtiger ist es doch, dass wir uns um die Ursache des Problems kümmern:

Der Ursprung von Gewalt gegen Frauen und weiblich gelesene Menschen. Und hierbei insbesondere gegen People of Color, Menschen, die Kopftuch tragen, und Personen mit Behinderung, die insbesondere von Gewalt betroffen sind.

Deshalb müssen Männer verstehen, dass sie – egal wie freundlich, rücksichtvoll oder verständnisvoll sie sind, egal ob sie Feministen, Familienväter oder liebende Freunde und Ehemänner sind – innerhalb unserer aktuellen Gesellschaft immer eine potentielle Gefahr für uns darstellen.

Im Oktober 2020 fragte die Bloggerin Isabell Gerstenberger (@btgasi) auf Instagram ihre Follower, was sie tun würden, wenn es einen Tag keine Menschen des anderen Geschlechts gäbe. Die Männer antworteten fast alle, dass sich für sie nichts weiter ändern würde. Die Frauen erzählten hingegen, sie würden nachts spazieren gehen, sich keine Gedanken darum machen, ob ihre Kleidung zu aufreizend sei und abends mit ihren Freundinnen auf einer Picknickdecke im Park liegen.

Isabell ist nicht die erste, die diese Frage auf Social Media stellt. Die Antworten sind dennoch fast immer gleich.

Ein Bild, das in den vergangenen Tagen immer wieder auf Social Media auftauchte, zeigt den durchgestrichenen Schriftzug „Protect your daughters“ und darunter „Educate your sons“. Beschützt nicht eure Töchter, bildet und erzieht eure Söhne.

Frauen und weiblich gelesenen Personen zu raten, nachts nicht mehr das Haus zu verlassen oder in der Dämmerung nicht mehr joggen zu gehen, ist der falsche Weg, der uns aber, seit wir Kinder sind, gepredigt wird. Dabei können wir nichts richtig machen, weil es nicht unser Verhalten ist, das etwas daran ändert, ob wir Gewalt erfahren oder nicht.

Deshalb ist mein Aufruf an alle Männer: Bildet euch und gebt dieses Wissen weiter!

Werdet euch eurer Privilegien bewusst, werdet zu unseren Verbündeten gegen Sexismus und Misogynie. Schreitet ein, wenn ihr sexistische Witze hört, die ein Frauenbild reproduzieren, das zum aktuellen gesellschaftlichen Problem beiträgt und sprecht mit euren Freunden über diese Themen. Auch, wenn keine Frau dabei ist. Fragt eure Freund*innen, was ihr tun könnt, damit sie und andere Frauen und weiblich gelesene Personen sich nachts sicher fühlen. Wechselt die Straßenseite, wenn euch nachts eine Frau oder weiblich gelesene Person entgegenkommt und wartet nicht darauf, ob sie es tut. Bleibt stehen, wenn ihr im Dunkeln hinter ihr lauft und zufällig in dieselbe Richtung müsst. Checkt kurz euer Smartphone, liket ein paar Posts, bindet euren Schuh. Ihr entschärft damit aktiv eine für uns potentiell bedrohliche Situation.

Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, Jungen wie Mädchen so zu erziehen, dass wir die toxischen Geschlechterstereotype nicht reproduzieren, sondern dekonstruieren. Das gilt nicht nur für Eltern und Pädagog*innen, sondern gleichermaßen für jede Person von uns, die Stereotype durch Taten und Worte wiederholt.

Nur, wenn wir dafür Bewusstsein schaffen, können wir zu einer Gesellschaft ohne toxische Männlichkeit, ohne Gewalt aus Folge von Diskriminierung und Hass werden.

Nur, wenn Männer nicht mehr als das starke Geschlecht bezeichnet werden und sich so verhalten müssen, um gesellschaftliche Akzeptanz zu erfahren, nur, wenn das „Nein“ einer Frau oder weiblich gelesenen Person genau so viel wert ist wie das eines Mannes und sie nicht mehr als Beute betrachtet wird, nur, wenn Mädchen nicht mehr dazu erzogen werden, immer nett und höflich zu sein, selbst wenn ihre Grenzen überschritten werden – nur dann hören wir auf, diese Stereotype und die daraus entstehenden Gesellschaftsstrukturen immer weiter zu reproduzieren.

Und nur dann kann sich die Gesellschaft verändern und zu einem System werden, in dem wir Männer nachts nicht als Gefahr wahrnehmen, weil es keinen Grund dafür gibt.

Weiterführende Info, wenn ihr euch nachts unterwegs bedroht fühlt:
Bundesweites Heimwegtelefon:
https://heimwegtelefon.net
030-12074182

Bildquelle: Unsplash

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