„Big Mama“ Thornton: eine gefährliche Frau

Frauen haben sich im Lauf der Geschichte stets brav in ihre Rolle gefügt? Von wegen! Die Musikerin Willie Mae „Big Mama“ Thornton zum Beispiel brach Mitte des 20. Jahrhunderts mit Genderstereotypen, trug Männerkleidung, wenn sie Lust hatte – und war die ursprüngliche Sängerin des Elvis-Hits Hound Dog. Mit ihrer Unangepasstheit griff sie die Vormachtstellung von Männern in der Blues-Szene an. Eine Frau, deren Lebensgeschichte zeigt: Es gab durchaus Heldinnen – sie finden nur selten im Mainstream statt. Deshalb schreibt Pinkstinks-Autorin Jessica Wagener in ihrer Kolumne „Frauengeschichten“ über faszinierende Menschen mit erstaunlichen Storys.

Sie singt nicht, sie röhrt. Die raue, rauchige Stimme von Willie Mae „Big Mama“ Thornton kratzt sich durch die Ohren nicht nur in die Beine, sondern vor allem ins Herz. Also, in meins jedenfalls. Und das auch noch tausend Mal tiefer bei einem Blick auf ihre Lebensgeschichte. 

Willie Mae Thornton kam am 11. Dezember 1926 im ländlichen Alabama auf die Welt. Ihr Vater war Pastor und ihre Mutter Sängerin in seiner Gemeinde. Musik war also von Anfang an Teil ihres Lebens. Nicht nur Gesang, auch Schlagzeug und Mundharmonika.

Als Willie Mae 14 war, starb ihre Mutter. Sie verließ ihr Zuhause und nahm einen Job in einer Bar an. Eines Abends, so lautet die Musik-Folklore, soll die Stamm-Sängerin zu betrunken gewesen und Willie Mae Thornton für sie eingesprungen sein. Mit Erfolg – der Beginn ihrer Musikkarriere. Noch als Teenagerin schloss sie sich als Bluessängerin der reisenden Varieté-Show „Hot Harlem Revue“ aus Georgia an und tourte sieben Jahre lang durch die Südstaaten. Danach, 1948, ließ sie sich in Houston nieder, um in Clubs aufzutreten und Platten aufzunehmen.

Den Spitznamen „Big Mama“ gab ihr, so schreibt die Musik-Anthropologin Maureen Mahon, Frank Shiffman, Manager des berühmten „Apollo Theater“ in Harlem (New York). Denn Willie Mae hatte 1952 bei einem Auftritt im Vorprogramm mit ihrer gewaltigen Performance der Headlinerin Little Esther knallhart die Show gestohlen. Das „Big“ in „Big Mama“ bezog sich laut Mahon dabei einerseits auf ihre Körpergröße – sie war fast 1,80 m groß und wog über 100 kg – vor allem aber auf die markante, unbändige Wucht ihrer Stimme. 

Die Sache mit Hound Dog

Im selben Jahr schrieb das junge Songwriter-Duo Jerry Leiber und Mike Stiller eine Blues-Nummer namens Hound Dog für sie. Der Titel sollte auf der A-Seite einer Platte mit ihrem eigenen Song They Call Me Big Mama auf der B-Seite erscheinen.

Hound Dog kam 1953 raus, hielt sich vierzehn Wochen lang in den R&B-Charts, sieben davon auf Platz eins – der kommerzielle Höhepunkt ihrer Plattenkarriere. Der Song steckt voller augenzwinkernder Anspielungen („You can wag your tail but I ain’t gonna feed you no more“) und ist eine Beschwerde über einen lästigen Mann aus Frauenperspektive. Hound Dog verkaufte sich zwei Millionen Mal, doch Thornton verdiente damit nur 500 Dollar. Drei Jahre später sang Elvis Presley den Titel. Allerdings gezähmt und auf ein weißes Mainstream-Publikum zugeschnitten – kein Schwanzwedeln mehr, keine weibliche Perspektive. Dafür aber machte Hound Dog Elvis reich und berühmt.

„Ich habe schon gesungen, lange bevor Elvis Presley geboren wurde, und er springt auf den Zug auf und wird vor mir Millionär … mit einem Song, den ich populär gemacht habe“, sagte Thornton laut Mahon 1972 frustriert. „Er macht eine Million und all das, weil er ein anderes Gesicht hat als ich.“

Damit legte Willie Mae den Finger in eine schmerzhafte, schwelende Wunde: Schwarze Amerikaner*innen hatten schon lange Blues-Musik gemacht, ohne damit den überwiegend weißen Mainstream zu erreichen und Erfolg zu haben. Selbst als junge, weiße Sänger*innen schwarzen Rhythm & Blues Sound imitierten, blieben die ursprünglichen Interpret*innen meist unbekannt. „Die Mehrheit der afroamerikanischen R&B-Künstler“, schreibt Maureen Mahon, „hatte immer noch nur begrenzten Zugang zu den Charts und zum Publikum.“ Die Entwicklung des Rock’n’Roll wurde demnach weißen männlichen Künstlern zugeschrieben; der Einfluss Schwarzer Frauen wurde weitgehend ignoriert. 

Queerness und Rebellion

Dennoch darf „Big Mama“ Thornton nicht auf „die Sängerin, der Elvis den Song geklaut hat“ reduziert werden. Sie war viel mehr. Zum Beispiel hat sie die vorherrschenden Vorstellungen von Geschlechterrollen hinterfragt.

Auf der Bühne trug sie – nicht ausschließlich, aber oft – Outfits, die typischerweise als Männerkleidung galten: Arbeitshose, Karo-Hemden, Cowboystiefel, Hut mit Krempe und auch mal Anzug. Das war damals in den 1950ern und 1960ern ziemlich radikal. Damit pfiff sie bewusst auf Konventionen und Erwartungen, was respektable Frauen anzuziehen und wie sie sich zu präsentieren hatten.

Willie Mae Thorntons sexuelle Orientierung spielt aus Maureen Mahons Sicht dabei eine untergeordnete Rolle. Sie hätte kein Material finden können, das Thorntons sexuelle oder romantische Beziehungen eindeutig dokumentiert. „Meine Interviews mit mehreren Personen, die Thornton in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren kannten und mit ihr arbeiteten, ergaben Geschichten über Männer, mit denen sie zusammen war – aber keine Erwähnung von weiblichen Partnerinnen“, schreibt sie, „Thornton war eine verschlossene Person.“ Das gelte es zu respektieren. Entscheidender war, dass sie sich mit dem queeren, unangepassten Image wohl fühlte und es ihr egal war, ob sie für hetero- oder homosexuell gehalten wurde. Das war nicht nur gewagt, sondern sorgte – vor allem bei männlichen Zeitgenossen – für Unbehagen. Und Neid.

In einem Interview sagte Thornton rückblickend: „Sie [männliche Musiker] waren immer eifersüchtig auf mich, denn wenn ich auf die Bühne gehe, dann performe ich. Ich sorge für […] Unterhaltung. Ich gehe nicht auf die Bühne, um hübsch auszusehen. Ich kam schon hübsch zur Welt.“ 

Und das kam laut „Big Mama“ Thornton zwar beim Publikum gut an, nicht aber bei ihren männlichen Kollegen: „Deshalb waren sie neidisch auf mich – weil […] sie nicht die Anerkennung bekamen, die ich hatte, weil ich einzigartig war.“ 

Oder wie Mahon zusammenfasst: „Sie stellte die Vormachtstellung von Männern in einer Männerdomäne in Frage und galt damit als gefährliche Frau.“

Das hatte nicht nur Auswirkungen auf ihr eigenes Leben, sondern prägte das gesamte Rock’n’Roll-Genre. US-Historikerin Tyina Steptoe schreibt in einem Essay: „Die Gender-Nonkonformität schwarzer Queer-Musiker half dabei, den rebellischen Charakter des Rock’n’Roll zu etablieren.“ Im Klartext: Ohne starke Charaktere wie „Big Mama“ Thornton wären Typen wie Elvis mit dem wilden Beckenkreisen nicht weit gekommen.

Mit wachsender Beliebtheit des weißen Rock’n’roll wurde schwarzer Blues immer unwichtiger; Thorntons Karriere geriet ins Stocken. In den späten 1950ern zog sie nach San Francisco und trat ohne Plattenvertrag auf. Allerdings verschlechterte sich im Laufe der Jahre auch ihre Gesundheit zunehmend; angeblich war Alkohol daran schuld. Ihr Lieblingsgetränk soll, so behauptet ihre Halbschwester Mattie Fields, Gin mit Milch gewesen sein. In den 1970ern hatte sie einen Autounfall, von dem sie sich nur schwer erholte. Dennoch trat sie bis in die 1980er auf, zum Beispiel mit Muddy Waters und B.B. King.

Am 25. Juli 1984 starb Willie Mae im Alter von 57 Jahren in Los Angeles an einem Herzinfarkt. Zu ihrer Beerdigung kamen gut zweihundert Trauergäste; die Kosten wurden zum Teil durch Spenden getragen. 

Doch von „Big Mama“ Thornton bleibt auch heute mehr als Mythos und Musik: In Brooklyn bietet seit 2004 das „Willie Mae Rock Camp“ Mädchen, Frauen, Transpersonen sowie geschlechtsuntypischen Jugendlichen und Erwachsenen zwischen acht und achtzehn die Möglichkeit, Musik zu machen. Und ihre eigenen Stimmen zu finden.

Weiterführende Links und Bibliografie:

‚About the Author‘, Maureen Mahon Bookswww.maureenmahonbooks.com 

‚History and Mission‘, Willie Mae Rock Camphttps://www.williemaerockcamp.org/ 

‚“Hound Dog“ – Big Mama Thornton (1953)‘, Library of Congresshttps://www.loc.gov/static/programs/national-recording-preservation-board/documents/HoundDog.pdf 

Mahon, Maureen. ‚Listening for Willie Mae „Big Mama“ Thornton’s Voice: The Sound of Race and Gender Transgressions in Rock and Roll‘ in Women and Music. A Journal of Gender and Culture 15 (2011), pp. 1-17

Steptoe, Tyina. ‚Big Mama Thornton, Little Richard, and the Queer Roots of Rock ’n‘ Roll‘ in American Quarterly 70 (2018), pp. 55-77

‚Willie Mae „Big Mama“ Thornton, Encyclopedia of Alabama

http://www.encyclopediaofalabama.org/article/h-1573