Blick ins Buch „Lebenskompliz♡innen“

Was bedeutet es, auf Augenhöhe zu lieben? Was kann der Ungleichheit, die mit dem heutigen Bild der romantischen Liebe immer noch einhergeht, entgegen gesetzt werden? Mit diesen Frage beschäftigt sich Nils Pickert in seinem neuen Buch „Lebenskomplizinnen: Liebe auf Augenhöhe“. Zur Veröffentlichung des Buchs könnt ihr bei Pinkstinks exklusiv ein Kapitel vorab lesen. Viel Spaß damit!

„Mental Load

Werfen Sie mit mir einen Blick auf den Mental Load. Wobei ich ziemlich erschöpft bin. Vielleicht sollte ich mich zuvor noch etwas stärken. Wissen Sie zufällig, ob noch Butter im Kühlschrank ist? Ah, und wo es mir gerade einfällt: Was soll es heute Abend eigentlich zu essen geben? Ich kann natürlich auch kochen, aber ich habe im Moment echt keinen Plan, was noch da ist. Wann genau muss ich die Kleine noch mal aus der Kita holen? Hatte ich Ihnen erzählt, dass ich erst heute früh den Aushang in der Kita gesehen habe, dass morgen Schließtag ist – das hätten Sie mir ruhig früher sagen können. Sind die Sachen schon aus der Reinigung zurück? Nicht? Tja, dann muss es noch mal das schwarze Hemd sein. Das hatten Sie ja schon gewaschen, oder? Wann kommen die Großen heute aus der Schule? Wie, die bringen vielleicht Freunde mit! Sind die geimpft? Schon gut, ich geh ja jetzt die Kleine holen und dann geht es hier auch gleich weiter. Wenn Sie mir schnell sagen, wo meine FFP2 Maske und der Schlüssel für das Fahrradschloss sind, dann bin ich auch schon weg. Was soll ich denn mit einer Bildermappe? Was soll das heißen: »Heute Abschluss Kunstprojekt«? Wie kriege ich das ganze Geraffel denn jetzt transportiert?!!

So, ich bin wieder da. Sorry wegen eben. Worüber wollten wir noch mal sprechen? Ah ja: Mental Load. Mental Load bezeichnet die mentale Belastung, die durch die permanente Zuständigkeit und das Organisieren von Alltäglichkeiten entsteht. Eine Belastung also, die über die Summe der einzelnen Tätigkeiten hinausgeht, über deren Aufteilung man sich als Paar verständigt hat. Sie ergibt sich aus der beiläufigen, fast immer geschlechtsspezifischen Zwangszuständigkeit für einen ganzen Tätigkeitsbereich. Das Konzept des Mental Loads ist nicht neu. Er wurde bereits in den 70er-Jahren in Zusammenhang mit den Erkrankungswahrscheinlichkeiten verschiedener Berufsgruppen verwendet und in den 90er-Jahren durch mehrere Studien präzisiert. Wenn wir heute von Mental Load sprechen, beziehen wir uns zumeist auf das, was die französische Zeichnerin Emma 2018 in einem Comic und Autorinnen wie Patricia Cammarata und Laura Fröhlich 2020 in entsprechenden Büchern dargelegt haben:

Mental Load ist das, was in der Nichtabsprache heterosexueller Beziehungen hauptsächlich von Frauen geleistet wird und sie belastet. Doppelt belastet wohlgemerkt. Erstens durch den Stress der permanenten gedanklichen Arbeit, die eben vornehmlich Frauen leisten, damit der Familienalltag nicht auseinanderfliegt. Und zweitens durch die fehlende Wertschätzung. Durch das Abtun als Kinkerlitzchen, die im Kopf zu haben nun wirklich keine Arbeit ist. Es geht dabei vor allem um Beispiele wie die, die ich Ihnen gerade übergeholfen habe: Wo sind die Hausschlüssel? Wann müssen die Kinder abgeholt werden? Wo bewahren wir die Versichertenkarten auf? Wann sind die Kinder mit wem verabredet und wie wird das geregelt? Was gibt es in den nächsten Tagen zu essen? Welche Geburtstage stehen als nächstes an und was für Geschenke sind zu besorgen?

Eltern waten an sich schon in den hüfthoch in Fremdbedürfnissen ihrer Kinder. Insbesondere Müttern reichen sie aber oftmals bis zum Hals, weil die Organisation dieser Fremdbedürfnisse, das Abspeichern, Abwägen und Priorisieren noch oben drauf kommt. Und das alles bei fehlender Anerkennung und Wertschätzung. All die genannten Beispiele mögen für sich Kleinigkeiten sein. Aber nehmen Sie einfach nur einmal die Situation, in die ich mich gerade fiktiv mit Ihnen begeben habe. Stellen Sie sich vor, ich wüsste all diese Dinge wirklich nicht und könnte sie auch nicht in Erfahrung bringen. Entweder weil Sie nicht da sind oder sich weigern, sie mir zu sagen. Das wäre das absolute Chaos. Nichts von dem, was normalerweise dafür sorgt, dass der Familienablauf einigermaßen reibungslos funktioniert, würde dann greifen. Ich wäre in kurzer Zeit gezwungen, mir unter Stress genau die Informationen zu beschaffen, die ich seit sehr langer Zeit ignoriere. Denn um bei mir als Beispiel zu bleiben: Ich bin nicht erst seit gestern Vater. All diese Dinge hätte ich nicht nur längst wissen können, sondern wissen müssen. Ich habe mich aber bewusst oder unbewusst der Zuständigkeit entzogen und rechtfertige in Rückschau meinen Mangel an Einsatz als Nebensächlichkeit.

Männer verweisen an dieser Stelle dann gerne darauf, dass es auch Bereiche gibt, in denen ihnen ohne Absprachen Mental Load zugeschoben wird. Das stimmt nicht nur, sondern deckt sich auch mit meiner persönlichen Erfahrung. Ich bin einer dieser Väter, die ständig im Haus ihre Kreise ziehen, um Glühbirnen zu wechseln, kaputte Geräte zu reparieren, die digitalen Endgeräte der Familienmitglieder zu warten und die Recherche für notwendige technische Neuanschaffungen zu übernehmen. Das alles auf dem Plan zu haben, ist mentale Belastung. Die Ähnlichkeit zu den bereits genannten Beispielen geht sogar so weit, dass mir die Selbstverständlichkeit auffällt, mit mich meine Lebenskomplizin in diesen Bereichen in Anspruch nimmt. Sie ist einfach nur froh, dass es gemacht wird und interessiert sich nicht wirklich für den konkreten Aufwand, der mit diesen Aspekten der Familienwahrnehmung verbunden ist.

Die Nichtwertschätzung von Mental Load ist also weniger böser Absicht als mehr der Ignoranz geschuldet. Trotzdem gibt es deutliche Unterschiede in den Inhalten der mentalen Belastung, die Mütter und Väter zu stemmen haben. Auch wenn ich meine Runden drehe, geht es um punktuelle Familienwartungsarbeiten. In den meisten Fällen habe ich noch Zeit, von einer Sache zur nächsten zu laufen. Der Mental Load, der gemeinhin Müttern aufgehalst wird, erlaubt keine gemächlich gedrehten Runden, sondern erfordert ihre dauerhafte Rotation. Mütter drehen sich hierhin und dorthin: Welche Schuhgröße hat das Kind gerade? Ist der Schwimmkurs schon bezahlt? Wann ist die Spielverabredung morgen Nachmittag? Ist meine Lieblingshose aus der Wäsche, welches Buch lesen wir als nächstes vor, hast du schon neues Shampoo gekauft, wann war noch mal Elternabend? Und übrigens: Die Matschklamotten in der Kita sind zu klein, aaaaaaaaaahhhh!! Sie sind erschöpft, ihnen ist schwindelig und der Mental Load belastet sie bis in den Schlaf hinein. Da wirkt die Nachfrage »Schatz, du wirkst so angespannt, was ist denn los?« wie der Gipfel der Niedertracht. Was los ist? WAS LOS IST?! Ich bin seit Jahren dein verdammtes Außengehirn und der Ablageplatz für die Bedürfnisse meiner Familie, während du hier ab und zu ein bisschen an der Waschmaschine herumschraubst. Das ist los! Für ihn sieht es aber gar nicht so aus. Weil wir grundsätzlich eher dazu neigen, auf Ausnahmesituationen zu achten und die Funktionsweise dessen nicht hinterfragen, was wir als Normalität begreifen. Für sie ist es eine unfassbare Belastung, diese Normalität herzustellen und zu gewährleisten. Für ihn ist es selbstverständlich, weil normal. Keine außergewöhnlichen Vorkommnisse.

Familien sind aber immer außergewöhnliche Vorkommnisse. Ein Elternliebespaar ergibt sich nicht einfach so. Selbst im sichtbaren Aufgabenbereich sind die meisten an der Belastungsgrenze. Mangelnde Wertschätzung, fehlende Zeit und Erschöpfung fressen sie auf. Die vertraute Menge Wohlwollen gegenüber dem Herzensmenschen reicht bei Weitem nicht aus und fühlt sich unendlich viel schwerer als früher an. Wundermittel gibt es nicht. Nur beinhartes Training, um unter buchstäblich erschwerenden Bedingungen mehr Wohlwollen stemmen zu können. Mitgefühl und Geduld mit sich selbst und dem Herzensmenschen. Radikale Ehrlichkeit beim Einpreisen von Tätigkeiten und Mentalbelastungen. Beziehungsvertragsaktualisierungen. Und Gleichberechtigung, immer wieder Gleichberechtigung. Verschwörungstheorien darüber, wie man sich gemeinsam gegen den Wahnsinn stellt und sich dabei in Liebe hält. Wir verschwören uns miteinander. Wir bilden eine Lebenskomplizinnenschaft. Du und ich, das ist immer noch der Plan.“


Nils Pickert – Lebenskomplizinnen

Liebe auf Augenhöhe

Paperbag, 288 Seiten
ISBN:978-3-407-86706-3
Das Buch erschien am 09.02.2022 im Beltz Verlag.
Hier könnt ihr es bestellen.

Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich gelesenen Personen betreffen.

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