Bloß Worte

Ich bin 37 Jahre alt, Vater von vier Kindern und ich ertrinke. Jeden Tag stehe ich auf, streiche ihnen verschlafen durchs Haar und versuche sie mit allem, was ich habe und bin, gegen das zu schützen, was auf sie zukommen wird. Aber es steht mir bis zum Hals und kein Land ist in Sicht. Ich ertrinke in Beleidigungen, Herabsetzungen, Beschimpfungen und Erniedrigungen. Sie kleben wie Scheiße an den Schuhen meiner großen Kinder, wenn sie aus der Schule zurückkommen. Sie setzen sich ungefragt mit ins Auto, wenn ich sie und ihre Freund*innen vom Kino abhole. Sie schleichen sich in ihre kleinen Streitereien und verwandeln diese in monströse Ungeheuer, die kaum je wieder aus dem Haus, geschweige denn aus der Welt zu schaffen sind.

Hure
Schlampe
Schwuchtel
Missgeburt
Fotze
Schwanzlutscher

Meine Kinder führen mit Wortwaffen Stellverterkriege für eine Gesellschaft von Erwachsenen, die sich mal eben für tolerant erklärt hat, in Wahrheit aber um einen ausgrenzenden, verächtlichmachenden Kern kreist. Auf den Pausenhöfen dieses Landes wird das Schmierentheater unserer Ängste und Überheblichkeiten inszeniert. Arroganz ist und bleibt dabei das Selbstbewusstsein des Minderwertigkeitskomplexes. Deshalb ist es auch verwerflicher, zum Opfer gemacht zu werden als Täter*in zu sein. Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu gilt schon lange nicht mehr. Stattdessen wird jemandem eine Wunde nach der anderen begebracht, in der Hoffnung, dass niemand bemerkt, wie verletzlich man selbst ist. Lieber Teil der Meute als hilflose Beute. Geschlecht und alles, was damit assoziiert wird, ist eine sehr beliebte Kategorie innerhalb dieser Vorgehensweise. Weiblichkeit erfährt eine doppelte Verächtlichmachung. Auch wenn Hure für sie und Hurensohn für ihn reserviert bleiben – die Referenz dafür ist die gleiche: Wie ein Mädchen!

Und während die einen niemals genug Mädchen sein können, müssen die anderen beweisen, wie sehr sie es auf gar keinen Fall sind.

Manchmal versuche ich, mit anderen darüber zu reden. Manchmal erwähne ich beiläufig, wie sehr mich das verzweifeln lässt – möglichst leise, um mein Gegenüber nicht zu verschrecken. Dann heißt es, „die sind halt so“. „Das sind doch bloß Worte, stell dich mal nicht so an.“ Ich stell mich aber an. Mir ist es nicht egal, dass wir sexualisierte Gewalt als Nebenwirkung unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens zu lassen. Viel zu oft scheint sie nicht einmal eine unerwünschte Nebenwirkung zu sein. Es ist mir auch nicht egal, wenn Kinder sich selbst verletzten und zerstören, weil sie die Verletzungen der anderen nicht länger ertragen. Und die Scheinheiligkeit, mich ernsthaft darüber zu wundern, wie das alles kommen konnte, bringe ich auch nicht (mehr) auf. Wieso sind unsere Kinder nur so? Wo doch Homophobie, Rassismus, Misogynie und jede andere nur denkbare Diskriminierungsform bei uns so gar keinen Platz haben? Kann man nicht drauf kommen, is klar.

Ich bin 37 Jahre alt, Vater von vier Kinder und ich finde, dass das aufhören muss. Bullying ist eine Seuche, bei der man nur einmal wegzuschauen braucht und schon hat sie die nächsten erfasst.

Aber statt uns darauf zu verständigen, dass endlich Schluss damit sein muss, liefern wir Kindern und Jugendlichen die Vorlagen für ihr abwertendes Verhalten. All ihre kleinen Stiche und vernichtenden Hiebe haben ihr Gegenstück in unserem Miteinander. Das bringt mich immer mehr an den Rand des Ertrinkens. Aber noch stehe ich jeden Tag auf, streiche meinen Kindern verschlafen durchs Haar und versuche sie mit allem, was ich habe und bin, gegen das zu schützen, was auf sie zukommen wird. Noch versuche ich mich zur Wehr zu setzen.

Ich hätte dabei nur gerne ein bisschen Unterstützung.