Brief an meinen Sohn

 

Lieber Strubbel,

Jetzt bist du schon ganze vier Wochen mit mir und trotzdem sind wir irgendwie nie richtig zum Reden gekommen. Seien wir ehrlich: Es liegt an dir. Kaum setze ich an, dir in einem meiner berüchtigten Monologe (Frag bei Gelegenheit mal deine Geschwister deswegen, die zeigen dir wie man ordentlich mit den Augen rollt!) die Welt zu erklären, zeigst du dich desinteressiert (schlafen), beschäftigt (essen) oder abgelenkt (Verdauungsk[r]ämpfe). Den Rest der Zeit bist du viel zu süß und machst viel zu lustige Geräusche, als dass man dir gerne erzählen würde, dass diese Welt eine wirklich seltsame Obsession mit deinen Geschlechtsorganen hat und auch noch versuchen wird, bei jeder sich bietenden Gelegenheit daraus Profit zu schlagen.

Weil das aber tatsächlich so ist, dachte ich mir, dass ich dir einfach davon schreibe. Das fällt mir sowieso meistens leichter als alles andere. Also es ist so: In dieser Welt machen die meisten Menschen ein riesen Gewese darum, ob du ein Junge oder ein Mädchen bist. Das war schon so als du noch in Mamas Bauch warst. Viele fanden es eine Frechheit, dass wir ihnen nicht dein Geschlecht verraten haben und zu diesem ganzen Rosa-Hellblau Geschenkewahnsinn nur meinten, dass die Leute uns das zwar gerne schenken können, dann aber damit leben müssten, dass wir dir die Sachen anziehen und dich damit spielen lassen, egal welches Geschlecht du hast. Das hat schon bei deinen Geschwistern funktioniert. Und bevor ich anfange, mich richtig aufzuregen, muss ich mich entschuldigen. Ich weiß, ich werde dich mit diesem Genderkram furchtbar anöden. „…und Frauen …Doktorinnen … Bauarbeiterinnen“ – jap, das bin ich. Nervt, weiß ich.

Andererseits kann ich einfach nicht hinnehmen, dass die Leute dir ständig unwidersprochen Lügen erzählen, mit denen sie dir einreden wollen, dass deine Schwester (du weißt schon, dass ist die, die dich die letzten Wochen auf dem Hüpfball geschaukelt hat und mit dir über den Teppich getanzt ist) von Natur aus nicht so viel kann wie du, mehr so gefühlsverbunden ist, gut mit anderen Menschen und Beziehungen und in der Schule bestenfalls fleißig, aber nicht talentiert. Nicht brillant. Und dass das alles natürlich mit ihrem Geschlecht zusammenhängt. Die Dinge, die sie kann beziehungsweise nicht kann. Die Farben, die sie mag. Die Sachen, mit denen sie spielt. Der ursprüngliche Plan war, dass allen, die so etwas behaupten, deswegen wie bei Pinocchio lange Nasen wachsen, so dass du immer gleich sagen kannst: „Aha, das schon wieder, na das war ja klar.“

Pinocchio

Leider funktioniert das so nicht. Stattdessen wirst du ihnen wahrscheinlich den Schwachsinn glauben wollen, weil sie ihn so überzeugend vertreten und das ja „schließlich alle sagen“. Vielleicht wirst du dann auch wie viele kleine Jungen, die mir begegnet sind, mit gepresster, leicht angerauter Stimme praktisch nur in Forderung sprechen und bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Zähne fletschen, um gefährlich auszusehen. So als wäre gefährlich aussehen unbedingt etwas, das Jungen können müssten.
Sie werden dir erzählen, dass Jungen, die Männer werden wollen, hart sein müssen, Schmerzen wegstecken und sich nicht vor Gewalt fürchten dürfen. Und sie werden dir vor allem vorschreiben, was du nicht sein darfst: Nicht schwul, kein Mädchen! Nicht zart, nicht weich, nicht kümmernd, nicht liebesbedürftig, nicht schwach. Deinem Bruder (das ist der, der beim Baden deinen Kopf hält und sich die vielen Lieder für dich ausdenkt) haben sie all diese Dinge schon an den Kopf geworfen. Glücklicherweise hat er einen unfassbaren Dickschädel und die nötige Portion Humor, um allen den Schneid abzukaufen – ich hoffe, du kommst da nach ihm. Und wenn es mal richtig gemein und unerträglich wird, bin ja immer noch ich da. Heute, morgen und den Rest meines Lebens.