Das bisschen Machtmissbrauch

Das bisschen Machtmissbrauch

Eine Kolumne von Nils Pickert

TW: sexualisierte und psychische Gewalt
Ich bin ein Lügner, ich habe Menschen schon viele Male schlecht behandelt und halte mich trotzdem für einen guten Menschen. Normalerweise fangen meine Texte nicht mit derlei Selbstbezichtigungen an. Aber wenn es um Machtmissbrauch geht, ist es gerade als mittelalter heterosexueller weißer cis Mann ohne Behinderung eine gute Idee, bei sich anzufangen. Genau das passiert nämlich viel zu selten. Genau das ist das Problem.

Lügen also. Das ist schnell erklärt. Menschen lügen mehrmals am Tag, das gehört zu unserer Sozialkompetenz. Wenn wir immer bei der Wahrheit blieben, würden wir in zu vielen Interaktionen Nachteile erfahren: Zum Beispiel, weil wir in den unpassendsten Momenten Liebe, Hass, Irritation, Verärgerung oder Begeisterung bekunden. Zur Fähigkeit „einen Raum lesen zu können“, gehört auch ein Gespür dafür, wann es angebracht ist zu lügen. Zwar existiert dazu mit „Radikaler Ehrlichkeit“ ein bemerkenswertes Gegenkonzept, bei dem jede bewusste Lüge vermieden wird, aber die allermeisten Menschen lügen sich mal bewusst, mal unbewusst durchs Leben.
Menschen schlecht behandeln – hat keinen Sinn, das zu bestreiten. Ich bin wie alle Menschen in einem sehr existenziellen Sinn allein und mir selbst der Nächste. Selbst vom Leben und Leiden meiner Liebsten habe ich nur einen mittelbaren Sinneseindruck. Also ergeben sich Missverstehen, Missachtung, Ignoranz und Härte wie von selbst. Verständnis, Güte, Mitgefühl, Großzügigkeit – das ist das, was sich nicht von selbst ergibt und worum man immer wieder ringen muss.

Trotzdem halte ich mich für einen guten Menschen. Auch das soweit unauffällig. Denn unabhängig davon, wie sie sich tatsächlich verhalten, glauben das die meisten Menschen. Die Mutter mit der Fake-Anmeldung in einem anderen Schulbezirk, die ihrer Tochter nur ein besseres Leben ermöglichen wollte. Der Wettbetrüger und der Geldwäscher, weil es „die anderen ja auch tun“. Der Mörder, weil es sich bei seinen Opfern immerhin nicht um Kinder handelte.

Wir halten uns für gute Menschen, weil uns unsere eigenen Motive nachvollziehbar erscheinen. Wir mussten, wir sahen uns gezwungen, wir konnten nicht anders und deshalb. Das führt zu einem Phänomen, das man illusorische Überlegenheit nennt. Wir halten uns gemeinhin nicht nur für gute Menschen, sondern anderen gegenüber sogar für moralisch überlegen. Wir wähnen uns „womöglich heilig, auf jeden Fall aber weniger böse als du!„. Das zeigt sich unter anderem dadurch, dass wir unsere eigene Spendenbereitschaft wesentlich höher einschätzen, als sie tatsächlich ist, während wir die Spendenbereitschaft unserer Mitmenschen mit akkuratem Zynismus einigermaßen präzise einschätzen können. Oder dadurch, dass laut Umfragen knapp die Hälfte der US-Amerikaner*innen davon ausgeht, sie seien „besser“ als alle, die sie kennen. Bemerkenswert dabei der geschlechtsspezifische Unterschied: Von den befragten Frauen hielten sich 67 % für gut, bei den Männern waren es 86 %.
86 Prozent, meine Güte. Interessante Zahl für das Geschlecht, das Kriege vom Zaun bricht und die meisten Gewaltverbrechen begeht. Zum Vergleich: In den Bundesgefängnissen der USA sitzen zu über 93 % Männer ein.

Und warum erzähle ich das? Warum diese lange Herleitung zum Thema Machtmissbrauch und Übergriffigkeit? Weil es in Deutschland im Zuge der leider noch viel zu kleinteiligen #MeToo-Debatte permanent zu Relativierungen und Verharmlosungen kommt. Macht missbrauchen immer nur die anderen. Nicht zum Beispiel Til Schweiger. Der kommt nur einmal betrunken ans Set. Außerdem trinken die anderen ja auch. Der schlägt anderen auch nicht ins Gesicht, das war eine Ohrfeige. Der lässt sich auch nur aus Spaß Imperator nennen, da steckt nichts dahinter. Außerdem können ja immer alle, die ein Problem haben, damit zu ihm kommen. Wenn jemand Angst hat oder sich unwohl fühlt, muss er und vor allem sie es einfach nur sagen.

Til „Leichte Backpfeifen kommen unter Männern schon mal vor“ Schweiger missbraucht seine Macht nicht.
Luke Mockridge übrigens auch nicht. Gut, der war vielleicht „ein Arschloch„, aber er wollte eben nur so feiern wie alle anderen auch. Und – laut eigener Aussage – das Safeword seiner damaligen Partnerin zu übergehen, kann schon mal passieren. Zudem kommt er „aus einer Generation, in der das noch Heldenstorys waren, wenn man ‚gestern noch eine geklärt hat‘“. Der Mann ist 10 Jahre jünger als ich. Mittlerweile lässt er sich damit zitieren, dass es ein „Säureangriff auf sein Image“ gab.

Zur Erinnerung: Säureattentate werden weltweit vor allem von Männern an Frauen verübt und zielen darauf ab, den Betroffenen aufgrund einer empfundenen Kränkung innerhalb patriarchaler Systeme bei lebendigem Leib das größtmögliche Maß an Zerstörung zuzufügen. Klar, dass das der in diesem Fall naheliegendste Vergleich ist.

Und Till Lindemann missbraucht seine Macht natürlich auch nicht. Das waren alles selbstbestimmte Groupies, die freiwillig ihre Handys abgegeben haben und sich „irgendwie“ am nächsten Tag nicht mehr erinnern konnten, was passiert ist.

Das hier zugrunde liegende Prinzip ist klar: Macht missbrauchen nur die anderen. Es gibt immer schlimmere Typen als dich. Mit Harvey Weinstein benennt Til Schweiger im Interview sogar einen und hat recht: Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist Til Schweiger kein Harvey Weinstein. Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hatte Till Lindemann auch Sex mit Fans, die genau das wollten. Aber es ist unser aller Verantwortung, den Graubereich des Machtmissbrauchs so klein wie möglich zu halten, damit es nicht immer wieder zu Übergriffigkeiten und zu psychischer und/oder physischer Gewalt kommt.

Und dafür müssen wir, gerade wir Männer, bei uns selbst anfangen. Bei unserer eigenen, gerne so schwammig wie möglich gehaltenen Definition von Machtmissbrauch. Bei „Der ist ja noch viel schlimmer als ich!“ und „Die anderen haben aber auch!“. Es geht darum, dass jemand wie Luke Mockridge – ganz unabhängig davon, wie man den ganzen Fall bewertet – das Safeword seiner Partnerin ignoriert und anschließend ernsthaft Sachen sagt wie „Egal, wie oft ich an unsere Beziehung zurückdenke, da war nichts Gewalttätiges.“
Es geht darum, Standards zu definieren, an die wir uns alle immer zu halten haben, anstatt elaborierte Ausnahmesituationen zu rechtfertigen. „Männer müssen andere Männer zur Verantwortung ziehen“ funktioniert nur dann, wenn sie bei sich selbst beginnen.

Was tue ich? Wie verhalte ich mich? Wie gehe ich mit Macht um, mit Menschen, die auf mein Wohlwollen, meine Anerkennung, mein Geld angewiesen sind? Nicht die anderen. Nicht „Der war aber noch viel schlimmer als ich!“, sondern „Was ist meine Aufgabe und wie kann ich Verantwortung übernehmen?“. Es ist wie Daniel Sloss sagt:

@danielsloss

CONTENT NOTE: Violence against womenIf you dislike the narrative around cis-men’s lack of involvement in preventing violence against women and girls, get involved in the conversation and change it!⁠⁠Video by Daniel Sloss

Gepostet von The Equality Institute am Montag, 14. Juni 2021

Wer das gegenwärtige Narrativ über Männer leid ist, kann es gerne ändern. Aber „Wenn ich nicht das Problem bin, bin ich wohl automatisch Teil der Lösung!“ reicht dafür nicht.


Wenn wir von Frauen und Männern sprechen, beziehen wir uns auf strukturelle gesellschaftliche Rollen, die weiblich und männlich gelesene Personen betreffen. Gleiches gilt für die Adjektive “weiblich” und “männlich”. In Statistiken und Studien, die wir zitieren, wird leider oft nur zwischen Frau und Mann differenziert.

Kommentare zu diesem Text könnt ihr uns in unseren Netzwerken hinterlassen und dort mit fast 140.000 Menschen teilen!

Bildquelle: nick-karvounis