Trigger-Warnung: Im folgenden Beitrag werden sexualisierte Gewalthandlungen und deren Folgen für die Betroffene geschildert, die belastend und retraumatisierend sein können.

Das Dornröschen-Syndrom

Trigger-Warnung: Im folgenden Beitrag werden sexualisierte Gewalthandlungen und deren Folgen für die Betroffene geschildert, die belastend und retraumatisierend sein können.

Immer wenn man gerade glaubt, sich einigermaßen einen Überblick über Formen und Auswirkungen von sexualisierter Gewalt angelesen zu haben, passiert es: Ein Interview, ein Text, eine Studie erscheint und plötzlich wird alles, was man sich an Ausmaßen des Problems vorgestellt hat, noch einmal höher skaliert. Letzten Freitag war es wieder so weit. Die Psychologin Jessica Taylor stellte mit ihrer Kollegin Jaimi Shrive eine Studie mit dem Titel „Ich dachte, dass wäre einfach ein Teil des Lebens“ vor, in der sie anhand der Erfahrungen von über 22.000 Frauen die Dimensionen von sexualisierter Gewalt in Großbritannien aufzeigt. Die Ergebnisse sind so präzise wie niederschmetternd.
Unter anderem belegen sie nicht nur, dass 99,3% der britischen Frauen im Laufe ihres Lebens Opfer von sexualisierter Gewalt geworden sind, sondern auch, dass über die Hälfte der befragten Frauen schon einmal davon aufgewacht ist, dass ihr Partner an ihnen sexuelle Handlungen vorgenommen hat.

Selbst Taylor, die sich seit Jahren mit dem Thema sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Mädchen beschäftigt, war von den Ergebnissen und der Größe der Zahlen überrascht. Im Interview gibt sie an, mit deutlich weniger gerechnet zu haben, um dann die naheliegende Frage zu stellen:

Warum machen Männer so etwas?

Die müssten doch wissen, dass sich Einvernehmlichkeit nicht mit einer schlafenden Person herstellen lässt. Es sollte doch klar sein, dass ich mit einem schlafenden Menschen überhaupt nichts anstelle, weil dieser Mensch sich zu meinen Handlungen überhaupt nicht verhalten kann. Allem Anschein nach wissen die betreffenden Männer es nicht oder gehen davon aus, dass sie ein Zugriffsrecht auf den Körper ihrer Partnerinnen haben, das sie zu jeder Zeit ausüben können. Das zeigt sich auch an dem Feedback der Opfer und der Täter, das Taylor auf ihre Befragungen und Forschungsergebnisse bekommt. Von Opfern bekommt sie immer wieder gespiegelt, wie „normal“ sich derartige Übergriffe für sie anfühlen, wie selbstverständlich sich das alles für sie ausnimmt.

Die Täter hingegen fühlen sich missverstanden und gerade mit Bezug auf sexualisierte Gewalt gegen ihre schlafenden Partnerinnen ihre Motive verzerrt dargestellt. Sie berichten davon, dass sie sich verbitten, als Vergewaltiger dargestellt zu werden, weil sie eine Einvernehmlichkeit über solche Handlungen mit der Partnerin bereits im Vorfeld hergestellt hätten. Es sei also nicht etwa so, dass sie einen sexuellen Übergriff im Schlaf intendieren würden, sondern entweder „davon ausgehen“ dass das ein unproblematischer Bestandteil aller sexuellen Beziehungen sei, oder sie sogar vorab das Einverständnis der Partnerin eingeholt hätten. Das bedeutet, dass es neben den Männern, die ihrer Partnerinnen bewusst (sexualisierte) Gewalt antun wollen und davor auch in deren Schlaf nicht zurückschrecken, und den wenigen Männern, die unter Sexsomnia leiden (also unbewusst im Schlaf sexuelle Handlungen an sich oder anderen vornehmen), zu viele Männer gibt, die sich keiner Schuld bewusst sind und gar nicht verstehen können oder wollen, wo das Problem sein soll. Denn in ihren Augen tun sie nichts Falsches, sondern haben innerhalb einer einvernehmlichen Beziehung „etwas abgefahrenen“ einvernehmlichen Sex. Sie gehen davon aus, dass sexueller Konsens grundsätzlich durch das Eingehen einer sexuellen Beziehung hergestellt wurde und allenfalls punktuell um Neuerungen im Repertoire aktualisiert werden muss. Das zeigt wie wenig wir immer noch von Konsensualität verstehen. Nur sehr langsam erheben wir uns aus den Zeiten, in denen das „Nein!“ von Frauen prinzipiell übergangen, umgedeutet, angezweifelt oder abgewertet wurde und brechen in das Zeitalter der informierten, enthusiastischen Einvernehmlichkeit auf. Einer Einvernehmlichkeit, die von allen Beteiligten mit Begeisterung und im Wissen aller dafür notwendigen Informationen hergestellt wird. Das mittlerweile berühmte Beispiel mit der Tasse Tee, die niemandem gegen seinen oder ihren Willen eingeflößt werden sollte – schon gar nicht wenn die betreffende Person bewusstlos ist, sollte eigentlich einleuchtend genug sein.

Ist es aber offenbar nicht, weil es zu vielen nicht einleuchten will. Weil es die Dinge verkompliziert, genauere und offenere Kommunikation erfordert und ein hohes Maß an Privilegienreflexion bedeutet. Über Tee und Einvernehmlichkeit ließe sich nämlich noch viel mehr sagen: Erwachsene sollten Minderjährigen keinen Tee anbieten. Wenn der Tee irgendwie nicht schmeckt, sollte ich mich nicht gezwungen fühlen, ihn auszutrinken. Wenn meine Lieblingssorte nicht da ist, muss ich keine andere trinken, um höflich zu wirken. Ich muss auch nicht ständig Tee trinken wollen, nur weil ich ein Shirt mit der Aufschrift „Teeliebhaber*in“ trage. Teezeit heißt nicht, dass ich Tee trinken muss, auch wenn wir „um die Zeit doch immer Tee trinken“. Und mit einer Tasse Tee geweckt werden bedeutet nicht, einer Schlafenden Person den Mund aufzusperren und Tee einzuflößen, weil man davon ausgeht, dass die Person das womöglich angenehm findet. Noch nicht einmal, wenn man vorher gemeinsam zu dem Schluss gekommen ist, dass das womöglich eine ganz nette Idee sein könnte. Es bedeutet die andere Person zu wecken und so freundlich wie möglich zu fragen, ob sie eine Tasse Tee möchte. Wenn sie ablehnt, kann das natürlich frustrierend sein. Aber gerade weil vor allem Frauen so häufig gezwungen werden, gegen ihren Willen Tee zu trinken,

sollten wir alles tun, um uns endlich die Grundregeln eines vernünftigen Teegenusses draufzuschaffen. Und das beinhaltet selbstverständlich auch, dass bewusstlosen Personen kein Tee eingeflößt wird. Alles andere ist Gewalt.

Hilfreiche Links:

Hilfetelefon – Gewalt gegen Frauen – rund um die Uhr erreichbar unter der kostenlosen Nummer 08000 116 016 – https://www.hilfetelefon.de/

Hilfetelefon Sexueller Missbrauch – rund um die Uhr erreichbar unter der kostenlosen Nummer 0800 22 55 530 https://www.hilfeportal-missbrauch.de

Tipps der Polizei bei Belästigungen: https://www.aktion-tu-was.de/tu-was/gegen-belaestigung/

Bundesweite Frauenhäuser-Suche – https://www.frauenhauskoordinierung.de/

Suche nach Hilfe-Einrichtungen in der Umgebung – https://www.frauen-info-netz.de/

ProFamilia – Onlineberatung – Suche nach Beratungsstellen in der Umgebung: https://www.profamilia.de/

Bildquelle: Unsplash

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