Das Gespenst der Frühsexualisierung


TW: Queerfeindlichkeit, Kindesmissbrauch

Ein Gespenst geht um in rechtskonservativen Kreisen – das Gespenst der Frühsexualisierung. Früher hieß Frühsexualisierung mal Verschwulung und davor Sittenverfall. Das funktioniert schon sehr lange und nach stets sehr ähnlichen Mustern: Rechtskonservative Kräfte behaupten eine allgemeine Verwerfung der gesellschaftlichen Moral, mit der ganz besonders leicht beeinflussbare Kinder und Jugendliche indoktriniert werden sollen. Sie prangern dabei eine Verschiebung und Entgrenzung von Werten an und versuchen andere darauf einzuschwören, mit ihnen zu einem moralisch höherwertigen, obskuren Früher zurückzukehren, in dem „unsere Kinder“ noch nicht so gefährdet waren. Das ganze folgt dem Prinzip der Moralischen Panik: Rock ’n‘ Roll, Satanismus, Ballerspiele, freizügige Kleidung, Sex, alleinerziehende Mütter, Feminismus –

alles Dinge, vor deren angeblicher Verderbtheit und Folgenschwere in den letzten Jahrzehnten immer wieder gewarnt wurde. Die Spiegel- Kolumnistin Samira El Ouassil hat kürzlich in einem klugen Text herausgearbeitet, wie identitätsstiftend diese Moralische Panik ist. Man identifiziert alles, was man schon länger für schmutzig, verwerflich und pervers gehalten hat und bündelt es in Anwürfen gegen ein zeitspezifisches Phänomen, damit man sich seiner selbst vergewissern kann und sich weiterhin mit Gleichdenkenden auf der sicheren, weil hegemonialen Seite wähnen kann: „Nicht wahr, das ist doch eine Frechheit. So etwas sollte man verbieten! Was die mit unseren Kindern machen mag ich nicht einmal aussprechen!“ Moralische Panik ist artverwandt mit Verschwörungserzählungen und Verleumdungsstrategien wie zum Beispiel die rund um Pizzagate, bei der einer „Washingtoner Elite“ vorgeworfen wurde, allesamt satanistische Pädokriminelle zu sein, die sich für ihre Umtriebe im Hinterzimmer bzw. im Keller einer Pizzeria treffen würden. Das hat ganz konkrete Folgen, die weit über das Stiften von Identität hinaus gehen. Mit Bezug auf das Pizzagate-Beispiel unter anderem, dass ein Mann mit einem Sturmgewehr in einer Pizzeria um sich schießt, weil er aus deren Keller misshandelte Kinder befreien will, die er dort ebenso wenig findet wie überhaupt einen Keller. Und eben auch, dass man dazu neigt, an den absurdesten Stellen nach Empörungsmaterial zu suchen, während sich der eigentliche Skandal nachweisbar vor aller Augen abspielt. Aber irgendwie scheint es befriedigender zu sein, sich bei menschenverachtenden Organisationen und im Internet inhaltlich dafür munitionieren zu lassen, einer ganz großen Sache auf der Spur zu sein, anstatt – sagen wir mal – die pädokriminellen Machenschaften der katholischen Kirche anzuprangern und vom Staat Konsequenzen zu fordern. Allein in Münster hat es in den 60er und 70er Jahren im Schnitt zwei Vergewaltigungen von Kindern durch Priester pro Woche gegeben – die ihre Verbrechen vor den Opfern als „gottgefällige Handlung“ bezeichneten.

Ich erwähne das hier deswegen, weil der Vorwurf einer angeblichen Frühsexualisierung in letzter Konsequenz auf die Tragweite dieser tatsächlichen Gräuel abzielt.
Unter dem Deckmantel einer angeblichen „Frühsexualisierung“ wird gegen sexuelle Aufklärung und Minderheiten ins Feld gezogen. Queere Identitäten sollen verunsichtbart werden, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. In den USA, in Ungarn und andernorts wird die buchstäbliche Auslöschung der Rechte queerer Menschen gerade vollzogen, in vielen anderen Ländern vorbereitet. Die Strategie ist immer dieselbe. Homosexualität wird als krank- und/oder sündhaft denunziert und gezielt mit Pädokriminalität in Verbindung gebracht. Trans Menschen werden skandalisiert und zu einer gesamtgesellschaftlichen Zumutung erklärt. Queere Menschen sollen sich dafür rechtfertigen müssen, dass und warum sie existieren, während das Urteil über sie längst gesprochen ist.

Und während man im deutschsprachigen Feuilleton noch darüber echauffiert, dass trans jetzt angeblich ein Hype sei, und sich alle Mühe gibt, anhand eines Beitrags der Sendung mit der Maus moralische Frühsexualisierungspanik zu schüren,

wird hier und anderswo schon zur Tat geschritten. Wird Hand an die Rechte, die Identität, die psychische und körperliche Unversehrtheit und das Leben von Menschen gelegt. Während sich immer mehr Leute unter dem Schlagwort Frühsexualisierung über Aufklärungsarbeit, Minderheiten und sexuelle Identität aufregen, erfahren Betroffene mehr und mehr Gewalt. Und während Rechtskonservative befürchten, der Mainstream würde von einer „woken“, schrillen Minderheit übernommen, reden sie einem Nazi und Rassenhygieniker das Wort, der „Frühsexualisierung“ unter anderem deshalb problematisch fand, weil „es einen Hauptvorzug der nordischen Rasse bildet, dass die leibliche und vor allem die seelische Entwicklung gegenüber anderen Rassen langsamer erfolgt“. Mit Zwangssterilisationen und Gutachten für Euthanasiemorde hatte er allerdings keine Probleme.

Also wenn wir wirklich über den Umgang mit frühkindlicher Sexualität und über die Art und Weise von Aufklärung streiten wollen, dann gerne. Aber nicht mit dem Gespenst einer Nazivokabel. Und ganz sicher nicht auf Kosten der Rechte von Minderheiten.

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Bildquelle: Tandem X Visuals