Letzte Woche war ich im Büro schlecht auszuhalten. Es gibt Tage, an denen ich uns schrecklich leid tue. Es war die Woche nach der Bombendrohung in der SAP-Arena, die Woche, in der ich vor meinem geistigen Auge überall #JesuisHeidi T-Shirts sah. Momentan sieht es ja auch so aus, wie ich befürchtet habe: Die Aufmerksamkeit durch die Bombendrohung beschert uns noch mindestens eine weitere Staffel, trotz aller Kritik, die wir mit angestoßen haben. Es bleibt nur zu hoffen, dass die im Nachtprogramm stattfindet, falls die Kommission für Jugendmedienschutz die Sendung auf „jugendgefährdend“ einstuft. Die Chancen sind nicht riesig.
Gerade in so einer Woche muss immer noch einiges oben drauf kommen. Während GNTM also vorerst weiterhin am frühen Abend als Einstiegsdroge zu Essstörungen an 12-Jährige gesendet werden darf, wurde eine wunderbar gelungene Doku über Alltagssexismus in Deutschland ins Nachtprogramm verlegt – wegen ein paar Bildern zu feministischem Porno („Wie sexistisch sind wir?“ ZDFneo). So wird die Doku kaum jemand sehen, auch nicht den darin enthaltenden Beitrag zu unserer Theaterabeit an Schulen, für die wir extra eine Aufführung inszenierten. In einem anderen TV-Beitrag für Panorama kam ich gefühlt zwei Sekunden zu Wort, dafür durfte der Marketingchef vom Ferrero-Überraschungsei, Axel Dammler, mal wieder stundenlang über unsere vermeintlichen weiblichen „Puppengene“ reden. Oft fühle ich mich so ohnmächtig in unserer Arbeit, dass ich eher halbleer als halbvoll denke. Der arme Jacob seufzte nur, stoppte die Redebeiträge und zeigte mir, dass Dammler 51 Sekunden, ich 49 zu Wort gekommen war. Warum fühlt es sich dann trotzdem so an, als wäre Pinkstinks eine Ameise im Kampf gegen eine Horde Elefanten? Immerhin haben wir hohe Pressepräsenz, für unsere Branche sehr viele Likes auf Facebook, werden zu den wichtigen Sexismus-Debatten in Deutschland angefragt und haben ein Stück Protestgeschichte geschrieben. Da muss man doch nicht gleich heulen.
Doch. Nehmen wir zum Beispiel meinen Besuch auf dem Bundeskongress Gendergesundheit letzte Woche, auf dem ich vor Mitarbeiter*innen des Gesundheitministeriums und großer deutscher Krankenkassen meine Wut über die mangelnde Präventionsarbeit gegen Essstörungen raushauen durfte. Erstens nannte sich das Ganze zwar „Genderkongress“, ein Großteil der Anwesenden fand es aber unsinnig, neben Ärzten auch noch von Ärztinnen zu sprechen – die waren doch mitgemeint! Eine Wissenschaftlerin, die eine Studie zu Sexualität verantwortete, meckerte über die Inter- und Homosexuellen, die in der Studie auch berücksichtigt werden mussten und „immer so empfindlich“ seien. Mir und ein paar jüngeren Soziologinnen fiel ständig die Kinnlade so tief, dass wir eine sehr witzige Genderforscherin beknieten, einen Vlog zu Gender und Medizin zu starten. Ich hoffe inständig, dass sie dies tut, um Mediziner*innen einen leichten Zugang zur soziologischen Genderforschung zu bieten. Wie Romeo Bissuti, ein Aktivist für Männergesundheit, sagte: „Die Soziologie ist in der Genderforschung Lichtjahre weiter als die Medizin.“
Medizin ist jedoch machtvoll, das ist es, was einen so aufregt. Wisst ihr, warum Übergewicht so ein großes Thema in Deutschland ist? Blutzuckermessgeräte. Insulinpumpen. Lauter technische Geräte, die hergestellt, verkauft werden und sehr viel mehr Geld machen, als man mit anderen Krankheiten verdienen kann. Deshalb ist die BMI-Grenze für Übergewicht auch schon bei einem BMI von 25, damit wir richtig viele Menschen in Deutschland haben, die überwacht werden müssen. Sie alle könnten Diabetes bekommen! Also brauchen wir Geld für Diabetesforschung! Und die bekommt sehr, sehr viel Geld.
Das wurde mir bei Sekt und Schnittchen erzählt, von Frauen, die in diesem System tätig sind, daran verdienen, es aber auch kritisch sehen. Es kann gut sein, dass Diabetes in Deutschland zugenommen hat. Es ist aber sicher, dass wir Diabetes heute eher diagnostizieren können. Es ist auch sicher, dass ein Mensch mit BMI 25 nicht wirklich dick ist. Ich kenne einige Menschen mit BMI 25, sie hüpfen sehr fröhlich und gesund durch die Gegend, während ich (BMI 23) mit meinem hohen Kaffee- und Schokoladenkonsum und als ehemalige Raucherin sicher ein sehr viel höheres Risiko trage, an Diabetes zu erkranken. Aber die vermeintlich Dicken, die sind das Problem. Oder besser: Sind der Segen der Diabetes-Industrie.
Ich ging einmal wieder mit Wut im Bauch und schlechter Laune von einer Berliner Veranstaltung. Bis eine sehr nette junge Frau, eher Mädchen, mich beim Gehen von der Seite ansprach. Sie hatte ihre Mutter auf den Kongress begleitet, war also nur zufällig dort und hatte meinen Vortrag gehört. Sie kam gerade vom Internat, in der alle ihre Mitschülerinnen an irgendeinem Punkt nicht mehr Glücksmomente sondern nur noch Kalorien zählten. Es war ihr wichtig, mir mitzugeben: „Danke, dass es euch gibt – eure Arbeit ist so wichtig!“. Da könnte man gleich wieder: Heulen. Aber diesmal die besseren Tränen. Weil inzwischen 260 Förder*innen das auch so sehen, uns unterstützen und unsere Arbeit erst möglich machen. Weil 14.000 Menschen auf Facebook unsere Blogeinträge liken und teilen, so dass wir teilweise bis zu 10.000 Menschen täglich auf unserer Seite haben. Dann fühlt man sich wirklich nicht mehr so allein in diesem Kampf. Das muss mal gesagt werden: Danke, dass es Euch gibt!
Eure Stevie
PS: Fördermitglied werden kann man schon ab 3 Euro im Monat: Damit ermöglichst du jährlich 12 Kindern, unsere Theaterarbeit zu sehen. Wenn Du Interesse hast, freu ich mich, wenn Du hier weiterliest!