Die fehlende Mütterlobby

Ich habe mich als Mutter im letzten Jahr so wenig von der Politik gesehen gefühlt, dass ich mich frage, ob es mich überhaupt gibt. Ich will kein Mitleid, versteht mich nicht falsch. Ich will Respekt. Dafür, dass ich mir täglich Sorgen um meine Kinder mache und neben dem Stress, ihren Stress zu erleichtern, versuche, selbst meine Arbeit zu tun, Steuern zu zahlen und mit Millionen anderer Eltern die Zukunft Deutschlands einigermaßen gesund durch die Pandemie zu bringen.

Vor einigen Wochen schrieb ich den Pressesprecher der Hamburger Schulbehörde an. Meine Kinder sind in jenen Klassen, die in Hamburg seit viereinhalb Monaten keine Mitschüler*innen gesehen haben: Das sind (je nach Schulform) Klasse 5, 7, 8, 9, 11 und 12. Das sind fast 50% der jugendlichen Kinder der Hansestadt und in den meisten anderen Bundesländern ist es ebenso. Ich fragte ihn, ab welcher Inzidenz die Kinder denn wieder im Wechsel an die Schulen dürften. Wenigstens einmal die Woche, vielleicht. Selbst, wenn das noch weit weg wäre, bräuchten wir dringen einen Wert, an dem wir uns festhalten und entlang hangeln könnten. Der Tag X, an dem die Welt sich ein Stück weiterdreht. Die goldene Zahl, die Verheißung verspricht. Damit die Kinder nicht aufgeben. Denn gerade die Großen wissen: Sars-Cov-2 geht nicht wieder weg. Sie haben nicht nur die einzige Klassenreise in der weiterführenden Schule verpasst, das Schulpraktikum, den Schüler*innenaustausch, die ersten Partys und den Tanzkurs, die vielen Geburtstagsfeiern, die erste Liebe und die ersten Zeltreisen ohne Eltern. Sie sitzen seit einem Jahr mit maximal einem Kontakt zu einer*m Gleichaltrigen zuhause und wissen, dass es vor 2022 auch keine Konzerte, Partys, Übernachtungsaktionen oder all das, was Jugendliche „normalerweise“ erleben, geben wird. Sie fragen sich, wie groß werden gehen soll, wenn sie sich nicht ausprobieren können. Viele sind unendlich einsam. Und demotiviert, noch irgendetwas für ihre Zukunft – „Welche Zukunft?“ – zu tun.

Die Antwort des Pressesprechers war: Er wisse es nicht. Es gäbe zwar einen nationalen Wert, ab dem Kinder in den Distanzunterricht müssen, aber es gibt bis heute keinen, der sie zurück an die Schulen holt. Da ja zum Glück in kaum einem Medium über diese politische Ahnungslosigkeit gesprochen wird, ist doch alles fein: Vor August oder September, so vermute ich, werden also 50% der Kinder in Deutschland in 2021 kein Schulgebäude gesehen haben. Eine Information der Stadt Hamburg an die Eltern? Eine Bekundung, wie hart das vor allem für die Kinder ist? Fehlanzeige. Nichts. Kein: „Ja, wir hätten als erstes die Lehrer impfen sollen…“, „Ja, wir hätten Luftfilter und innovative Konzepte…“, „Wir haben, ehrlich gesagt, keine Ahnung, wie wir das berechnen sollen…“ –Alles wäre okay. Aber es kommt: Gar nichts. Keine Selbsterklärung, kein „Wir sehen Sie. Und wir wünschten, wir könnten helfen, aber die Mühlen…die Mutante…“ Nichts. Uns gibt es gefühlt gar nicht.

Ca. 8% der Jugendlichen in Deutschland haben ADHS. Besonders für sie, aber auch für viele neurotypische Kinder gilt: Den ganzen Tag in ihrem Zimmer vor dem Rechner zu hocken, ist Gift für die Gehirnchemie. Viele können nicht mehr schlafen, ihr Gehirn fährt Looping. Auch meine Kinder müsste ich alle zwei Stunden zum Toben an die frische Luft schicken, aber dafür sind sie viel zu alt. Ich soll Taschengeld entziehen, wenn sie nicht raus gehen? Jugendliche brauchen momentan kein Taschengeld. Erziehungs-Hebel sind rar in einer Pandemie. Viele Distanzlernende sind in einem Alter, in dem sie sich dringend abgrenzen müssten von uns Erwachsenen. Ich bin in dem Alter regelmäßig durchgetanzt und besoffen nach Hause gekommen und hatte im Abgrenzen und Rebellieren wenigstens einen Heidenspaß. Aktuell haben Kinder nur die uns in den Wahnsinn treibende Dauermedienbeschallung, die es ihnen noch schwerer macht, nicht in Demotivation oder sogar Depressionen zu verfallen.

Wir haben um uns herum viele Fälle von Depressionen, Essstörungen und Schulversagen. Zu viele verzweifelte Eltern, die klagen: „Das Kind braucht Routine! Das Kind braucht andere Kinder!“ Und: „Ich kann nicht mehr! Das Kind muss aus dem Haus!“ Die Kinder treffen sich kaum noch mit anderen Freund*innen, weil sie Angst haben, ihre Eltern zu infizieren, weil um-den-Block-gehen irgendwann sterbenslangweilig ist, weil der April viel zu kalt zum gemeinsamen Abhängen draußen war. Kein Kind über 12, das ich kenne, frühstückt noch oder zieht sich zum „Distanzunterricht“ an. Alle bleiben im Bett – bis Mittag, meistens bis abends. Und wenn ich hier einen Kommentar bekomme, „Das ist nicht gesund, Routinen sollten eingehalten werden!“, werde ich zum Tier. Wir müssen selbst arbeiten. Wir können nicht jeden Morgen unsere Kinder anbrüllen (es bringt auch nichts). Viele Eltern sind morgens gar nicht da – z.B., weil systemrelevante Personen kein Home-Office machen können. Irgendwann kann man nicht mehr gegen die Pandemie anerziehen.

Es ist nicht gesund, Teenager mit ihren Eltern einzusperren. Es ist höchst ungesund. Ich weiß, dass viel zu viele Menschen sterben oder Long Covid bekommen und ich plädiere hier nicht für Schulöffnungen um jeden Preis. Ich will nur, dass unsere Kinder wahrgenommen werden und wir in unserer Sorge um sie. Das ist gar nicht viel – und macht so viel aus. Aus Berlin höre ich von einer sehr intensiven Kommunikation vom Senat mit den Eltern – ich wünsche euch, egal wo ihr seid in Deutschland, dass das bei euch auch so ist. Berichtet gerne in den Kommentaren!

Als der Pressesprecher mir diese Antwort gab, war ich so baff, dass ich am liebsten eine Petition gestartet, eine Initiative gegründet oder in irgendeiner Form mit anderen protestiert hätte. „Tja, selbst schuld, wenn ihr nicht laut werdet!“, sagte ein kinderloser Journalist neulich zu mir. Ich habe aber, wie so viele Mütter und Eltern in Deutschland, keine Kraft übrig. Wir sind nicht umsonst die lobbylose Gruppe, weil wir mit anderen Dingen voll beschäftigt sind. Zum Beispiel, die Rolle des Staates zu übernehmen. An seiner Stelle mache ich den Kindern jetzt täglich Hoffnung: „Wenn die Inzidenz in Hamburg unter 90 fällt und alle über 50-jährigen geimpft sind, dürft ihr wieder an zwei Tagen in die Schule. Da bin ich ganz sicher. Wir schaffen das!“

Wie schwer kann es sein, das einmal festzulegen und zu schreiben, Stadt Hamburg?

Bildquelle: Unsplash

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PS: Inzwischen ist bekannt, dass nach den Hamburger Maiferien immerhin die Klassenstufen 5 und 6 im Wechsel an die Schulen in Hamburg dürfen. Dank der Initiative „Back to School“ wächst der Druck auf Schulsenator Thies Rabe, auch weiteren Klassen Präsenunterricht zu ermöglichen. Wenn ihr ihre Petition dazu unterschreiben möchtet, klickt hier.