Die Mutter aller Aufstände

Frauen und weiblich gelesene Menschen haben im Laufe der Geschichte nur brav gekocht und geputzt? Von wegen. Das beweist die irische Nationalheldin Grace O’Malley. Sie war im 16. Jahrhundert nicht nur Clanchefin und Freibeuterin, sondern brachte auch Königin Elisabeth I. persönlich auf ihre Seite – und rang den Männern ihrer Zeit enormen Respekt ab. Eine beeindruckende Frau, deren Leben zeigt: Es existierten sehr wohl auch weibliche Anführende und Weltverändernde – sie finden nur nicht im Mainstream statt. Deshalb schreibt Pinkstinks-Autorin Jessica Wagener in ihrer Kolumne „Frauengeschichten“ über faszinierende Menschen mit erstaunlichen Storys.

Ich liebe Abenteuergeschichten. Schon als Kind habe ich eher Banden gegründet als mit Puppen gespielt. Aber bis auf Pippi Langstrumpf waren die meisten Abenteuer Jungs vorbehalten – meine erste Erinnerung an „du bist ja nur ein Mädchen“. Wahrscheinlich habe ich mich deshalb sofort bis in die Haarspitzen für die Geschichte von Grace O’Malley (auf Gälisch lautet ihr Name Gráinne Ní Mháille) begeistert. Denn sie hat sich im 16. Jahrhundert weder vom Leben noch von den Männern in ihrem Umfeld kleinkriegen lassen. Im Gegenteil.

Üblicherweise sind die Geschichtsbücher voll mit weißen Männern. Alle anderen? Vielleicht als Fußnoten, Hexen oder Verführerinnen. Dabei haben sie schon immer den Lauf der Welt mit geprägt: als Künstlerinnen, Kämpferinnen, Königinnen. Trotzdem haben wir von vielen noch nie gehört. Denn wer in die Geschichte eingeht und in Büchern steht, bestimmen die Mächtigen – und das sind im Patriarchat die Männer. Logisch: Je weniger weiblich gelesene Vorbilder für unangepasstes Verhalten existieren, desto eher fügen sie sich in ihre „natürliche“ Rolle – Kochlöffel statt Schwert halt. Also werden starke weiblich gelesene Figuren verschwiegen, weggelassen, ignoriert. Ein weiterer Weg, wie das Patriarchat seine Vorherrschaft sichert. Zeit, das zu ändern und endlich mehr facettenreiche historische Held*innen zu entdecken. Wie Grace O’Malley.

„Die Mutter aller Aufstände“

Die Gischt brandete donnernd an den hölzernen Bug der kleinen Galeere. Die irische See konnte rau und gefährlich sein. Doch Gráinne kannte das Meer ihrer Heimat seit ihrer Kindheit. Das Motto ihres Clans lautete „Terra Marique Potens“ – mächtig zu Lande und zu Wasser. 1593 war das Leben in Irland brutal und hart. England versuchte seit Jahren, die Insel zu kolonisieren. Doch viele der irischen Clans kämpften trotzdem gegen- statt miteinander gegen die Bedrohung von außen. 

Grace O’Malley war 1593 über 60 Jahre alt, zweifach verwitwet und Sir Richard Bingham, englischer Gouverneur der Provinz Connaught, ihr erklärter Erzfeind. Für ihn war sie, wie er schrieb, „die Mutter aller Aufstände in Irland“. Nach dem Tod ihres ersten Mannes Donnell O’Flaherty 1560 hatte Grace die Führung übernommen, mindestens 200 Männer hörten auf ihr Kommando. Grace war unter dem Namen Granuaile seit Jahrzehnten als Piratin erfolgreich – und im Sommer 1593 auf ihrem Schiff unterwegs zu einer Audienz mit der englischen Königin Elisabeth I. am Hof in Greenwich. 

Deal mit der Königin

Grace O’Malley hat über Jahre hinweg immer wieder Petitionen an der irischen Verwaltung vorbei direkt an die englische Königin und ihre rechte Hand William Cecil geschickt – unter anderem, um ihren Widersacher Bingham loszuwerden – und dabei diplomatisches Talent bewiesen. Wie die Literatur-Professorin Marie-Louise Coolahan in ihrem Buch Women, Writing, and Language in Early Modern Ireland schreibt: „Sie nutzte jede Gelegenheit, um dem Gouverneur der Königin ein Messer in die Seite zu rammen.“

In ihren Petitionen – mit Hilfe von Übersetzer*innen verfasst – schaffte es Grace, Elisabeths eigene Position als weibliche Autoritätsperson in einer männerdominierten Welt widerzuspiegeln. Sie hatten etwas Entscheidendes gemeinsam. Die Königin wurde neugierig auf die Piratin. 

Obwohl einige der Geschichten um Grace O’Malley ins Reich der Legenden gehören, hat das Treffen der beiden Frauen in diesem Sommer 1593 tatsächlich stattgefunden. Da Elisabeth I. kein Irisch sprach und Grace nicht ausreichend Englisch, sollen sich die beiden laut Coolahan auf Latein unterhalten haben, der damaligen Verkehrssprache. 

Die Königin ordnete die Freilassung von Graces Söhnen und ihrem Bruder an – für das Versprechen, sich gut zu benehmen. Und sie akzeptierte großzügig Graces Unterordnung, anstatt sie für ihre Revolten gegen die englische Besatzung und ihre Raubzüge zu bestrafen. Obwohl Elisabeth und Grace rivalisierende Formen weiblicher Souveränität verkörperten – irische Clanchefin und englische Monarchin – fanden sie so zusammen einen Weg, der einerseits Graces Autorität in Irland bewahrte, andererseits aber auch Elisabeths Status als Königin festigte. Weibliches Win-win im 16. Jahrhundert.

1594 wurde dann auch Bingham zurück nach England beordert, zumindest vorübergehend. Und Grace konnte sich wieder ihrer Piratinnen-Tätigkeit widmen – von nun an allerdings unter der Schirmherrschaft der Königin. Das war Teil des Deals. Piraterie war im sechzehnten Jahrhundert für viele Menschen in Küstenregionen Teil ihrer Lebensgrundlage. Und die Grenzen zwischen illegaler Piraterie und Freibeuterei im Namen der Krone waren fließend, wie die Beispiele von Graces männlichen Zeitgenossen Francis Drake und Walter Raleigh zeigen. Die beiden sind weltbekannt. Und Grace?

„Sie brachte auch ihren Mann mit“

Neben ihrem Talent für Diplomatie brachten Grace auch militärisches und maritimes Können hohen Respekt von allen Seiten ein. 

Der englische Lord Deputy of Ireland, Sir Henry Sidney, beschrieb seine Begegnung mit ihr so: „Eine höchst berühmte Kapitänin namens Grany Imallye bot mir ihre Dienste an, mit drei Galeeren und 200 kämpfenden Männern… sie brachte auch ihren Mann mit, denn sie war sowohl zu Lande als auch zu Wasser mehr als nur seine Gemahlin… Diese Frau war an allen irischen Küsten berüchtigt.“ Und der englische Lord Justice für Irland, William Drury, nannte sie unter anderem „berühmt für ihre Tapferkeit und ihre Person sowie für verschiedene Heldentaten, die sie auf See vollbracht hat.“

Graces Ruf und Macht basierten auf ihrer Rolle als Clanchefin ebenso wie auf politischem Geschick. Sie war eine Realistin, die das veränderte politische Klima erkannt und sich angepasst hat, um die Umwälzungen zu überleben.

Und das ist ihr erstaunlicherweise sehr lange und erfolgreich geglückt – als Frau in einer Männerdomäne im umkämpften Irland des sechzehnten Jahrhunderts. Grace soll 1603, im selben Jahr wie Elisabeth I., mit über 70 Jahren gestorben und in der Burrisool Abbey beigesetzt worden sein; der genaue Tag und die Umstände ihres Todes sind in den Untiefen der Zeit verschwunden. 

Egal, ob zu Lande oder zu Wasser, mit dem Schwert oder der Feder, unter ihrer Flagge oder der der englischen Königin – letztlich kämpfte Grace ein Leben lang leidenschaftlich und mit allen Mitteln für sich und ihren Clan.

Nicht wichtig genug für die Chronist*innen?

Trotz ihres abenteuerlichen Lebens und ihrer faszinierenden Geschichte ist Grace O’Malley lange in Vergessenheit geraten. Zumindest offiziell. Lange Zeit wurde ihre Geschichte nur in Folklore, Gedichten und Balladen weitergetragen.

Das änderte sich mit dem wachsenden irischen Nationalbewusstsein. So schrieb der irische Historiker Hubert Thomas Knox im Jahr 1905, gut zehn Jahre vor dem irischen Unabhängigkeitskrieg von 1916: „So wichtig sie heute in der Tradition des Countys Mayo ist, war sie im 16. Jahrhundert nicht wichtig genug, um von irischen Chronisten erwähnt zu werden.“ Die Autorin und Biografin Anne Chambers hat auch eine Erklärung dafür: „Irische Historiker fanden es offenbar so schwierig, das Phänomen Grace O’Malley zu erklären, dass sie sie lieber komplett weggelassen haben.“

Doch Dokumente der englischen Kolonialverwaltung belegen Graces Existenz, ihren Ruf und ihre Rolle in der irischen Politik und Seefahrt. Diese Papiere beschreiben laut Anne Chambers „eine außergewöhnliche Frau, lebendig, dynamisch, und wagemutig“. Chambers hat Bücher über Grace O’Malley geschrieben und fasst ihre Persönlichkeit so zusammen: „Furchtlose Anführerin zu Land und zu Wasser, politische Pragmatikerin und Taktikerin, Rebellin, Piratin und Matriarchin.“ 

Inzwischen ist Grace längst eine irische Nationalheldin, ihrer Heimat Mayo steht sogar eine Statue von ihr. Damit ist sie aber eine Ausnahme.

Grace O’Malleys Geschichte belegt, das Frauen und weiblich gelesene Menschen aus der Geschichtsschreibung weggelassen werden – besonders, wenn sie nicht in das gängige Narrativ von „Helden waren immer Männer, Frauen haben bloß im Hintergrund brav gestickt“ passten. Aber sie zeigt mehr. Zum Beispiel, wie wichtig Resilienz, Durchhaltevermögen und Anpassungsfähigkeit sein können. Wie Frauen und weiblich gelesene Menschen jeden Alters ihr Schicksal durchaus selbst in die Hand nehmen und gestalten können. Dass sie selbst mit über 60 noch lässig Erzfeinde ausmanövrieren, Königinnen um den Finger wickeln, sich Respekt verschaffen, Leute anführen und Beute machen können. Mit Schwert statt Kochlöffel, ganz ohne Ehemann oder Prinzen.

Und mir persönlich zeigt das Leben von Grace O’Malley vor allem eins: Abenteuergeschichten sind eben nicht nur für Jungs.

Bildquelle: Pinkstinks Germany e.V.

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