Frauen haben sich im Lauf der Geschichte stets brav in ihre Rolle gefügt? Von wegen! Es gab durchaus Heldinnen, die Abenteuerliches erlebt und geschafft haben – sie finden nur selten im Mainstream statt. Deshalb schreibt Pinkstinks-Autorin Jessica Wagener in ihrer Kolumne „Frauengeschichten“ über faszinierende Menschen mit erstaunlichen Storys.
Wikinger, das sind doch diese wilden Kerle mit den Hörnern am Helm – oder? In der Popkultur wird das stereotypische Bild des Wikingers meist mit Männlichkeit verbunden. Dabei gab es unter ihnen auch etliche unerschrockene, abenteuerlustige, zähe und insgesamt sehr außergewöhnliche Frauen. Wie Gudrid Thorbjarnardóttir (Guðríður Þorbjarnardóttir) – eine nordische Entdeckerin, die über den Atlantik nach Nordamerika segelte. 500 Jahre vor Kolumbus.
Aber nicht nur, dass Gudrid das Nordmeer überquerte und die erste Europäerin auf dem anderen Kontinent war: Sie brachte dort auch einen Sohn zur Welt. Das jedenfalls überliefern die beiden nordischen Vinland-Sagas, die von der Entdeckung Grönlands und Neufundlands um das Jahr 1000 herum erzählen.
Und bevor jetzt jemand „Pah! Das sind doch nur Märchen!“ ruft: Erstens besteht Geschichte nicht ausschließlich aus offiziellen Dokumenten (die durchaus einseitig oder manipuliert sein können) – mündlich überlieferte und, wie die Vinland-Sagas, später aufgeschriebene Geschichte gehört ebenfalls dazu. Auch, wenn die Sagas teilweise widersprüchlich sind und vor Drachen und Trollen wimmeln – im Kern beziehen sie sich auf echte Namen, echte Orte, echte Ereignisse, echte Menschen. Deshalb gehören die nordischen Sagas zu den wichtigsten Text- und Informationsquellen über diese Zeit.
Zweitens haben norwegische Archäolog*innen in den1960er Jahren in Neufundland handfeste Beweise für entsprechende skandinavische Siedlungen zur Wikingerzeit vor Ort gefunden. Tja.
Schön, weise – und wagemutig
Gudrid wurde in der zweiten Hälfte des zehnten Jahrhunderts auf der Snæfellsnes-Halbinsel in Island geboren. Laut der britischen Mittelalter- und Wikinger-Expertin Eleanor Rosamund Barraclough wird Gudrid als „Frau von auffälliger Schönheit und Weisheit“ beschrieben.
In den Vinland-Sagas heißt es, dass sie als Teenager mit ihrer Familie von Island aus nach Westen gesegelt sei, um sich in der Siedlung von Erik dem Roten – laut Barraclough „ein jähzorniger Serienmörder“ – in Grönland niederzulassen. Eine der Geschichten beschreibt, dass Gudrid und ihre Familie bei der gefährlichen Überfahrt Schiffbruch erlitten und von Eriks Sohn Leif gerettet wurden; in der Saga von Erik dem Roten wird nichts davon erwähnt.
Doch ob Schiffbruch oder nicht, die Ankunft in Grönland war hart. Auf die Neuankömmlinge in der noch recht neuen Wikinger-Siedlung warteten Hungersnot, Krankheiten und ein bitterkalter Winter. Der Überlieferung zufolge war Gudrid zu dem Zeitpunkt mit Thorstein Erikson, Leifs jüngeren Bruder, verheiratet. Während Gudrid die Herausforderungen der unwirtlichen Umgebung überlebte, erlag Thorstein einer Krankheit und ließ eine junge Witwe in einer fremden Umgebung zurück.
Gudrid suchte sich einen neuen Ehemann, Thorfinn Karlsefni, und überzeugte ihn, mit ihr die beschwerliche Überfahrt nach Vinland – also Nordamerika – anzutreten. Dort soll sie, so schreibt Barraclough, ihren Sohn Snorri zur Welt gebracht haben. Nach drei Jahren machte sich die Familie wieder auf den Heimweg nach Island, mit Zwischenstopp in Norwegen. Letztlich ließen sie sich auf einem Bauernhof in Glaumbær nieder.
Die wahre Heldin heißt Gudrid
Wie Barraclough schreibt, wurde Gudrid eine beeindruckende Matriarchin und Vorfahrin vieler Isländer: „Es ist ihre Blutlinie, die am Ende der Saga von den Grönländern verzeichnet wird, nicht die von Erik dem Roten.“
Dabei konnte Gudrid ihre Reise- und Abenteuerlust jedoch nie ganz abschütteln. Insgesamt soll sie auf acht Seefahrten gegangen sein. Später im Leben konvertierte sie zum Christentum und ging auf Pilgerreise nach Rom, den Großteil der Strecke zu Fuß. Gudrid gilt als eine der meist gereisten Frauen des frühen Mittelalters. Ihren Lebensabend verbrachte sie auf dem Bauernhof ihres Sohnes Snorri.
Im Jahr 2001 haben Archäolog*innen in einem Feld in Glaumbær die Überreste eines Hauses entdeckt, das Gudrids Familie gehört haben könnte – an der Stelle, an der es die Sagas beschrieben haben. Es ähnelt den Gebäuden in der nordamerikanischen Siedlung in Neufundland.
Auch heute, rund 1000 Jahre später, erinnern sich Menschen noch an die wagemutige Frau, die den Atlantik überquert und neue Ufer angesteuert hat. In ihrem Geburtsort Laugarbrekka im Westen Islands sowie in Glaumbær steht je eine kleine Replik einer Gudrid-Skulptur des isländischen Bildhauers Ásmundur Sveinsson aus dem Jahr 1938. Sie zeigt Gudrid am Bug eines Bootes stehend, mit ihrem Sohn Snorri auf der linken Schulter. „Ihre Augen sind fest nach vorn gerichtet, auf die lange Seestraße vor ihr“, beschreibt Barraclough die Statue. Und sie sagt: „In vielerlei Hinsicht ist Gudrid die wahre Heldin der Vinland-Sagas.“
Links, Bücher und Infos:
Eleanor Rosamund Barraclough, ’The amazing life of a great female Viking explorer’, History Extra, https://www.historyextra.com/period/viking/gudrid-thorbjarnardottir-who-icelandic-viking-woman-vinland-sagas/
Eleanor Rosamund Barraclough, Beyond the Northlands: Viking Voyages and the Old Norse Sagas (Oxford: Oxford University Press, 2016)
Sarah Durn, ‚Did a Viking Woman Named Gudrid Really Travel to North America in 1000 A.D.?, Smithsonian Magazine, https://www.smithsonianmag.com/history/did-viking-woman-named-gudrid-really-travel-north-america-1000-years-ago-180977126/
Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich gelesenen Personen betreffen.
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Bildquelle: dpVUE.images/istock