Vor ziemlich genau einem Jahr hatte ich beim Schreiben der Prinzessinnenjungs die Deadline so direkt vor Augen, dass ich mich an das Kapitel wagte, das mir am meisten Sorgen bereitete. Es heißt Gewalt ist (k)eine Lösung und auch wenn mir von Anfang an klar war, dass es nicht einfach werden würde, hatte ich keine Ahnung. Ich hatte keinen blassen Schimmer davon wie persönlich ich schließlich werden würde. Zunächst hatte ich vorgehabt, meine eigenen Gewalterfahrungen hinter Formulierungen wie „einige Männer“, „Studien belegen, dass Männer“ und „eine Befragung unter Männern hat 2018 ergeben“ zu verstecken, aber das funktionierte überhaupt nicht. Nicht ohne dass ich mich selber exponieren und klarmachen würde, dass Gewalt nicht nur etwas Abstraktes ist, das irgendwo durch irgendwen irgendwem zugefügt wird, sondern etwas sehr Konkretes, hier, jetzt, direkt in diesem Buch. Also schrieb ich darüber, wie sehr meine Jugend von körperlichen Auseinandersetzungen mit anderen Jungen geprägt war. Mit Jungen, die mir Gewalt antaten, und mit Jungen, denen ich Gewalt antat. Und ich schrieb darüber, dass mein Vater mich aufforderte „die Hände herunterzunehmen“, bevor er mir mit voller Wucht ins Gesicht schlug. Genau an dieser Stelle merkte ich, warum ich das Kapitel so lange aufgeschoben hatte. Der Druck, sich für diese Situation schämen zu müssen, war fast übermächtig. Aber ich wusste, dass ich mich nicht schämte. Nicht mehr. Also schrieb ich:
Wissen Sie, warum ich Ihnen das erzähle? Weil es mir nicht im Geringsten peinlich ist. Und weil ich Sie für sich selbst und Ihre Prinzessinnenjungs überzeugen will, nein überzeugen muss, dass Sie nicht von mir erwarten sollten, es peinlich zu finden. Sie brauchen sich nicht für mich fremdzuschämen. Ich habe nichts falsch gemacht. Ich bin nicht gescheitert, ich habe nicht versagt, ich hätte absolut nichts tun müssen, um das zu verhindern. Es ist nicht meine Aufgabe, kein Opfer zu sein.
Ein paar Monate später stellte ich fest, dass es noch etwas gab, mit dem ich nicht wirklich gerechnet hatte. Nämlich wie sehr dieser letzte Satz auf mich zurückfallen würde. Wie häufig ich ihn in an mich gerichtete E-Mails fand. Wie viel Gewalt da draußen ist. Ein Ozean voller Gewalt.
Männer schrieben mir, was sie als Jungen insbesondere von ihren Vätern hatten erdulden mussten, weil sie Lust auf Röcke, Glitzer und Verschönerung hatten. Weil sie Trost brauchten. Weil sie sich weigerten zu kämpfen. Weil sie weinten:
Backpfeifen. Kopfnüsse. Schläge. Tritte. Gürtelhiebe. Prügel mit schweren Gegenständen.
Andere berichteten, wie sie aus einer Gruppe heraus Gewalt gegen Einzelne verübt hatten und sich mittlerweile darum bemühen, Abbitte zu leisten. Wie einfach, wie naheliegend es für sie gewesen war mitzumachen. Und wie sehr sie es heute bedauern. Je mehr ich davon las, desto deutlicher wurde, wieso sich so viele Männer schämen, Opfer zu sein und so wenige dafür, zu Tätern zu werden. Weil wir sie dazu erziehen, sie dazu auffordern, es ihnen schmackhaft machen und einbläuen. Dabei sollte es genau andersherum sein. Und nicht nur für Männer. Gewalt zu erfahren oder erfahren zu haben, ist kein Makel. Zum Täter zu werden kein Ausdruck von Stärke oder Kompetenz. Aber wir erzählen Männlichkeit viel zu häufig falsch herum. Wir finden Täter faszinierend und Opfer verachtenswert. Wir fabrizieren oder glauben Lügen darüber, was es bedeutet, ein Opfer zu sein und wer dafür die Verantwortung trägt.
Ich hoffe, dass wir diesen Ozean voll Gewalt irgendwann mit Liebe zuschütten. Mit Zärtlichkeit, Nähe, Vertrauen und Verzeihen. Aber da er sehr groß ist und wir Menschen im angesicht seiner schieren Endlosigkeit sehr klein, habe ich nicht mehr als einen Kiesel, den ich in ihn werfen kann:
Es ist nicht eure Aufgabe, kein Opfer zu sein.
Bild: Unsplash
Kommentare zu diesem Text könnt ihr uns in unseren sozialen Netzwerken hinterlassen und dort mit insgesamt 110.000 Menschen teilen!