Es ist längst kein Geheimnis mehr: Frauen mögen Sex und stehen in ihrer – individuell verhandelbaren – Lust und ihrem Begehren Männern in nichts nach. Soweit, so aufgeklärt. Und doch wundere ich mich, dass die weibliche Lust nicht ernst genommen wird. Stattdessen halten sich die ewiggleichen Klischees und Vorurteile so hartnäckig wie CDU-Ressentiments gegen eine Politik von links.
Da ist zum Beispiel das aktuell in der Chrismon erschienene Gespräch zwischen dem „Jungsfragen“-Beauftragten Benjamin Scholz und der Ärztin Gisela Gille, die unter anderem an Schulen Aufklärungsarbeit für Mädchen betreibt. Kein Zweifel, sympathische Gesprächspartner*innen, aber unterm Strich gelten die Aussagen: Jungs agieren sexuell unter dem Lust- und Befriedigungsaspekt, Mädchen dagegen seien verhaltener, emotionaler und auch weniger an Selbstbefriedigung interessiert. Ist das so, oder ist das bloß das ewig gleiche Märchen der scheuen und schambehafteten Jungfrau? Ich dachte, wir wären mittlerweile besser darin, Mädchen in ihrem körperlichen Begehren zu ermutigen. Wieso wird das, was die meisten Erwachsenen als selbstverständlich erachten – das gleichberechtigte Recht auf Lust – nicht an die nächste Generation weitergegeben? Weil es dann nicht mehr so einfach wäre, Frauen darauf hinzuweisen, dass ein zu kurzer Rock und ein Drink zu viel eine Vergewaltigung provoziere?
Die Chrismon erscheint übrigens als Beilage in der ZEIT, zusammen mit dem ZEIT Magazin, in dem die Partnerschaftsanzeigen eine Freundin von mir regelmäßig zu dem Kommentar „Die sind der Knaller“ hinreißen. Da geben sich Frauen in der Kategorie „Sie sucht ihn“ als sinnlich, charmant und hübsch auf der Suche nach einem liebevollen, warmherzigen Partner, einem Fels in der Brandung. Die Kontaktanzeigen bei „Er sucht Sie“ offerieren dagegen Solvenz, Intellekt und Charakterstärke, zu testen in rein erotischen Begegnungen – weil partnerschaftlich gebunden. Ausnahmen gibt es, bestätigen aber viel zu selten die Regel.
Und nein, weder Natur noch Biologie bestimmen diese Regeln. Bloß die Verselbstständigung der erfundenen Wahrheiten über Sexualität aus dem 18. Und 19. Jahrhundert: Männer sind so und Frauen sind anders und wer nicht der Norm entspricht wird verspottet, weshalb es halt einfacher ist, als Frau den Blick zu senken und die Beine zusammenzuhalten. Wir erzählen immer noch die alten Geschichten über Sex, obwohl wir es besser wissen müssten. Obwohl wir wissen, dass sie nichts taugen, dass sie sexistisch sind und Rollenkorsetts schmieden.
Die Kulturwissenschaftlerin Stephanie Haerdle hat im Januar ihr Buch über die Geschichte der weiblichen Ejakulation veröffentlicht. In „Spritzen“ hat sie untersucht, wie das Jahrtausend alte Wissen um die Ejakulation beim vaginalen Orgasmus im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert „verloren gegangen“ ist. Aus unterschiedlichen Gründen, vor allem aber deshalb, weil sich das Verständnis von Sexualität und Reproduktion verändert hat. War man vorher davon ausgegangen, neues Leben entstehe durch das Vermischen des männlichen und weiblichen Samens, wusste man nun um die vom Sperma befruchtete Eizelle. Das vaginale Abspritzen schien vernachlässigbar, weil er ja nicht der Zeugung diente. Dass es dem Lusterlebnis und der Sichtbarkeit dieser Lust diente, schien und scheint keine Rolle zu spielen.
Und genau darum geht es: Alles, was der Lust der Frau von weiblich gelesenen Menschen mehr Sichtbarkeit gibt, fällt beständig unter den Tisch, während, alles, was ihr Zurückhaltung und Vorsicht suggeriert sich beständig hält. Auftritt Klitoris: Obwohl längst bekannt ist, dass die vermeintliche Erbse ein tief in den Körper reichender Schenkelkomplex ist, der sogar stärker anschwellen kann als ein Penis, setzt sich dieses Wissen in Fach- und Aufklärungsbüchern nicht durch. Der Einfachheit halber spricht man von der Vagina und blendet den Rest (Vulva, Klitoris etc.) schlicht aus. Im Gegenzug wird brav das Jungfernhäutchen beschworen, die verletzliche Pforte einer jeden Jungfrau, die beim ersten Geschlechtsverkehr hingebungsvoll blutet. Medizinisch längst widerlegt, hält sich der magische Mythos des „Ersten Mals“ hartnäckiger als jede Erektion eines Jungmannes. Mit dem Ergebnis, dass alles Wissen über Sexualität die vermeintliche Zurückhaltung des Weiblichen feiert, die Fähigkeit zur Lust aber ignoriert. Und auch wenn es mittlerweile genügend Feminist*innen gibt, die dieses Wissen durchaus verbreiten und sicherlich darüberhinaus jede und jeder eigene Erfahrungen macht, dieses Wissen muss dringend mainstreamiger werden.
Damit insbesondere Cis*Frauen ihre Lust uneingeschränkt zugestanden wird. Und damit solche Gespräche wie zwischen Gille und Scholz nicht mehr stattfinden, dafür mehr Kontaktanzeigen, wie ich sie schließlich doch noch im ZEIT Magazin bei „Sie sucht Ihn“ gefunden habe: „Erotische Begegnungen wünsche ich mir (60+, 172 cm, 72 kg, blonde Mähne) mit freundlichem Mann.“
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