FRAUENVERUNSICHERUNG
Frauen Verunsicherung

Frauenverunsicherung

Eine Kolumne von Nils Pickert

Triggerwarnung: Die folgenden Inhalte behandeln Themen wie sexualisierte Gewalt, MeToo und Victim Blaming.

Kürzlich habe ich mich in einer Kolumne für die österreichische Zeitung Der Standard ziemlich aufgeregt. Grob gesagt ging es darum, dass meine Tochter wie alle anderen Frauen, Mädchen und weiblich gelesene Personen permanent Catcalling, Übergriffigkeiten und Schlimmeres ertragen muss, während alle so tun, als wäre das nun einmal der Lauf der Welt, der sich nicht ändern lässt. Man könnte meinen Ärger auch als Wut über das bezeichnen, was sich als Rammstein-Erfahrung beschreiben lässt. Nicht nur das mutmaßliche Vorgehen des Frontmanns der Band ist furchtbar, sondern auch die zahlreichen verharmlosenden Reaktionen darauf:
Das sind alles Schlampen, die haben sich das Groupie-Leben ja ausgesucht, wieso stellen die sich in die Row Zero? Wieso ziehen die sich so an, wieso sehen die so aus, warum gehen die trinken und feiern? Wie können die sich einbilden, einfach selbstbestimmt Sex haben zu wollen, und wenn sich die Situation und oder Person(en) aus welchen Gründen für sie nicht gut anfühlt, selbstbestimmt keinen Sex haben zu wollen?

Anstatt also anmaßende, übergriffige oder gewalttätige Männer zurechtzuweisen, wird die Bewegungsfreiheit und das Leben von Frauen eingeschränkt – wieder einmal. Sie sollen nicht dorthin, nicht in diesem Aufzug, nicht mit diesem Dekolleté, aber auch nicht ohne. Sie sollen, um aus der Berichterstattung über den Rammsteinfall zu zitieren, gerne eine gutaussehende Freundin mitbringen, aber auf gar keinen Fall ihren Freund. Auf der Party nur Göörls, zwinkizwonki. Wißtda Bescheid.

Weiß ich tatsächlich. Ich lebe lange genug in einer Welt, in der junge Frauen sehr erwünscht, aber maximal unfrei sind. Sie werden begafft, belauert und bedroht. Mann lobt ihre Normschönheit und verachtet ihren freien Willen und ihre Widerständigkeit. Mann hofft, sie in einem schwachen Moment zu erwischen oder so manipulieren zu können, dass sie den Vorgaben dieser sexistischen Welt erliegen, und gegen ihren eigentlichen Willen Sex mit einem Mann haben, der sie zuvor runtergeputzt, kleingemacht und verunsichert hat. Aber wie inzwischen ausnahmslos alle wissen sollten, gibt es keinen Sex gegen den eigentlichen Willen. Das nennt sich sexualisierte Gewalt. Das nennt sich Vergewaltigung und sollte auch so genannt werden.

Die Bühne für meine inzwischen erwachsene Tochter und alle anderen jungen Frauen ist also bereitet. Sie haben das Stück weder geschrieben noch redigiert, inszeniert oder abgenommen. Sie haben es nur zu spielen. Es ist ein Klassiker und das männliche Publikum freut sich. Vielleicht gibt es ja ordentlich was zu sehen. Vielleicht darf Mann ja sogar mitspielen. Und das erste Mittel der Wahl des Dramaturgen lautet seit Jahrhunderten Verunsicherung. Junge Frauen dürfen bloß nicht zu selbstsicher sein. Nur nicht glauben, dass ihnen hier irgendetwas gehört. Sich ja nicht einreden, sie könnten machen, was sie wollen. Und wir nehmen das einfach so hin. In einer Lebensphase, in der alles weit und offen sein sollte, in der vieles beängstigend, neu, überfordernd und riesengroß ist, haben wir die Welt für junge Frauen so eingerichtet, dass sie einfach noch mehr überfordert werden. Frauen dürfen in dieser Welt nämlich einiges sein, aber ganz gewiss nicht sicher. Auf keinen Fall unabhängig. Die Gleichung

maximale Überforderung = maximale Manipulierbarkeit = maximale Verfügbarkeit

gilt als Standardformel und Mann harrt freudig der Resultate. Und falls sich wider Erwarten mal jemand darüber beschweren sollte, werden die üblichen Verteidigungsgeschosse in Stellung gebracht. Dass junge Frauen ja wüssten, was sie mit ihren „Reizen“ anstellen und was sie dafür bekommen. Es ist eines der ekligsten, perfidesten Manöver aus der patriarchalen Trickkiste, Frauen dafür zu kritisieren und zu beschämen, dass sie das kleine bisschen an Bewegungsfreiheit auch noch ausnutzen, das Mann ihnen zwecks Erheiterung, Dienstbarkeit und sexueller Erregung zugesteht:
Wie, du bist jung, siehst gut aus und nutzt das, um das zu erreichen, was du willst. Also dafür haben wir eine Welt, in der du jung und gutaussehend sein sollst, aber nicht gebaut. Das sollst du doch für uns sein, Dummchen, nicht für dich.

Ich stelle mir gerne für meine Tochter und andere junge Frauen vor, dass sie morgen aufwachen und diese Form der Verunsicherung wäre einfach weg. Niemand würde sie belauern. Niemand würde händereibend darauf warten, dass sie straucheln, um sich auf sie zu werfen, anstatt ihnen aufzuhelfen. Sie könnten einfach ab und an verunsichert sein, weil sie junge Erwachsene sind und das Leben eben manchmal ganz schön beängstigend ist. Sie würden sich nicht länger mit dieser sexistischen Grundverunsicherung herumschlagen müssen, in die jede neue Einzelverunsicherung riesige Krater schlägt. Sie würden ihre eigenen Stücke schreiben, auf die Bühne bringen und spielen. Und was das für Stücke wären!

Bleibt nur noch zu klären, was ich dafür tun werde. Was wir alle dafür tun werden.

Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen bzw. Männern und Jungs sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich und männlich gelesenen Personen betreffen. Häufig greifen wir auch Statistiken auf, die meistens leider nur die binären Geschlechter „Frau“ und „Mann“ berücksichtigen. 

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