Es vergeht kaum ein Tag, an dem in Deutschland nicht übers Gendern diskutiert wird. Einige gehen sogar noch einen Schritt weiter: Verschiedene Landtagsfraktionen fordern „Genderverbote“. In Schleswig-Holsteins Schulen wurde das vor kurzem umgesetzt. Ein Lagebericht.
In den vergangenen Jahren gab es kaum eine Woche ohne Meinungsartikel in deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften zum Thema Gendern. Ob Wolfgang Thierse, Elke Heidenreich, Friedrich Merz oder der Vorsitzende der Gesellschaft für deutsche Sprache, Peter Schlobinski – sie alle beschworen den Untergang der deutschen Sprache beim Benutzen von Sternchen, Doppelpunkt oder Binnen-I im Schriftlichen oder beim gesprochenen Gender Gap herbei. Und übersahen dabei zwei Dinge: Zum einen, dass sich Sprachwandel nicht künstlich aufhalten lässt, egal, wie laut man schreit (selbst der Duden nähert sich neuerdings mit der Schreibweise „Autor/-in“ dem geschlechtergerechten Sprachgebrauch an), und zum anderen, dass die wenigsten derjenigen, die aktiv gendern, andere dazu zwingen wollen, es auch zu tun.
Wo sich der natürliche Sprachwandel nicht aufhalten lässt, wird alles versucht, um ihn künstlich auszubremsen: mit neuen Gesetzen und Verboten. Aktuelle Vorstöße kommen aus dem Norden des Landes. In Hamburg rief CDU-Chef Christoph Ploß im Mai nach einem Verbot der gendergerechten Sprache. „Von Beamten, Lehrkräften und Dozenten erwarte ich, dass sie im Dienst gültige Regeln und Normen nicht einfach willkürlich verändern“, sagte er in einem Interview mit dem Spiegel.
Im September zog Tobias Koch, CDU-Fraktionschef von Schleswig-Holstein, nach und forderte einen Volksentscheid zu dem Thema. Für Ärger sorgte kurz darauf ein Erlass von Bildungsministerien Karin Prien (CDU), mit dem sie – in der heißen Phase des Wahlkampfs – Gendern an den Schulen Schleswig-Holsteins verbieten ließ. Ähnliche Vorstöße gibt es im ganzen Land, auch Mario Voigt (CDU Thüringen) und Markus Söder (CSU Bayern) sprachen sich für Verbote aus.
Konsequenzen für Schleswig-Holstein
Was bedeutet das nun konkret für Schleswig-Holstein? In einem Erlass vom 9. September des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur heißt es, der gesellschaftliche Wandel und die Diskussion um die Verwendung geschlechtergerechter Sprache werde begrüßt: „Die Thematisierung von und die Förderung eines Bewusstseins für Formen unterschiedlicher Sprachverwendung je nach Kontext sind wesentlicher Bestandteil eines sprachsensiblen Unterrichts. Das Thema der geschlechtergerechten Sprache ist hierzu insbesondere geeignet, weil Schülerinnen und Schüler in diesem Zusammenhang an einem aktuellen Beispiel erleben und nachvollziehen können, dass Sprache ein lebendes Konstrukt ist und sich kontinuierlich in Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen verändert.“ Allerdings obliege dem Bildungsministerium die Umsetzung der deutschen Rechtschreibung. Ziel sei, dass „die geschlechtergerechte Schreibung sachlich korrekt, verständlich, lesbar und vorlesbar“ sei, so Bildungsministerin Karin Prien. „Und sie darf das Erlernen der geschriebenen deutschen Sprache nicht erschweren.“
Folgefehler für Gendersternchen
Konkret bedeutet das: An schleswig-holsteinischen Schulen wird seit 2006 verbindlich die Rechtschreibung auf Basis der amtlichen Regeln des Rates für deutsche Rechtschreibung gelehrt. Dieser hat seit November 2018 einen Kriterienkatalog für die Verwendung gendergerechter Sprache, der im März 2021 erneut bekräftigt wurde und unter anderem beinhaltet, dass Texte verständlich und vorlesbar seien und nicht vom eigentlichen Inhalt ablenken solle. „Lehrkräfte in Schleswig-Holstein unterrichten Rechtschreibung auf Basis der geltenden Erlasslage“, heißt es vom Bildungsministerium des Bundeslandes. Da der Rat die Schreibweisen mit entsprechender Interpunktion aber nicht empfiehlt, bedeutet das für Schleswig-Holstein, dass wie bei anderen Verstößen gegen die Rechtschreibung auch „die Verwendung dieser Formen in schriftlichen Arbeiten von Schülerinnen und Schülern, in denen die Bewertung der Sprachrichtigkeit in die Leistungsbewertung eingeht, beim ersten Auftreten als Fehler markiert und anschließend als Folgefehler gekennzeichnet wird. Möglich sind die jeweils ausgeschriebene weibliche und männliche Form sowie eine neutrale Variante – beispielsweise Expertinnen und Experten oder Studierende.“
Aus der Uni Kiel kommt Kritik
An der Universität Kiel steht man diesen neuen Verordnungen teilweise sehr kritisch gegenüber. „Langwierige Kämpfe gegen Diskriminierung – und dazu gehört auch sprachliche Diskriminierung – haben für eine größere Akzeptanz geschlechtergerechter Sprache geführt. Eigentlich sollte diese ja eine Selbstverständlichkeit sein: Unsere Welt besteht eben nicht nur aus cis Männern“, hält Esther van Lück vom Arbeitsbereich Gender & Diversity Studies fest. Der Erlass von Karin Prien ignoriere „die geschlechtliche Vielfalt in unserer Gesellschaft und sendet ein Signal gegen Diversität.
Eigentlich sollte [geschlechtergerechte Sprache] eine Selbstverständlichkeit sein: Unsere Welt besteht eben nicht nur aus cis Männern.
Esther van Lück, Uni Kiel
Ein Blick nach Hamburg
In Hamburg, wo Christoph Ploß, Mitglied des Bundestages und Vorsitzender der CDU Hamburg, ähnliche Verordnungen wie das Bildungsministerium Schleswig-Holsteins fordert, trat am 1. Januar 2015 das neue Hamburgische Gleichstellungsgesetz in Kraft, das die sprachliche Gleichbehandlung somit verankert und außerdem empfiehlt, geschlechtsneutrale Begriffe dort zu verwenden, wo es möglich ist: etwa „Lehrkräfte“ statt „Lehrerinnen und Lehrer“. Für die Schulen gebe es bisher, so heißt es von der Pressestelle der Behörde für Schule und Berufsbildung mit Nachdruck, keine neuen Vorgaben, sprich kein generelles „Genderverbot“.
„Die Schulbehörde legt großen Wert darauf, dass im Unterricht die geltenden Regeln der deutschen Sprache erworben werden“, so Luisa Wellhausen von der Pressestelle. Man richte sich dabei – wie in Schleswig-Holstein auch – nach dem Rat für deutsche Rechtschreibung, zu dessen Aufgaben „die ständige Beobachtung der Schreibentwicklung, die Klärung von Zweifelsfällen und die Erarbeitung und wissenschaftliche Begründung von Vorschlägen zur Anpassung des Regelwerks an den allgemeinen Wandel der Sprache“ gehöre. Dieser empfiehlt, Menschen mit geschlechtergerechter, sensibler Sprache zu begegnen, spricht sich derzeit aber gegen die Aufnahme „verkürzter Formen zur Kennzeichnung mehrgeschlechtlicher Bezeichnungen im Wortinnern“ ins Regelwerk der Rechtschreibung aus.
Schüler*innen sollen eigenständige Meinung bilden
Eine sinnvolle und dabei nicht widersprüchliche Vermittlung der deutschen Rechtschreibung in den Schulen ist also eine Herausforderung. „Lehrkräfte müssen sich bei der Vermittlung der Inhalte an die gültigen Hamburger Lehrpläne halten“, erläutert Luisa Wellhausen. Aber dabei ist es natürlich ein Anliegen, dass sich „Schülerinnen und Schüler mithilfe des Unterrichts eine eigenständige Meinung bilden können“. Dazu gehörten auch kontroverse politische Diskussionen – wobei die Schule als Institution (selbstverständlich unter Betrachtung aller „elementaren Eckpfeiler unseres Grundgesetzes“) neutral bleiben müsse.
Eine große Neuerung gibt es aber in Hamburg: „Seit diesem Jahr haben die Hamburger Behörden vereinbart, dass freiwillig auch Sternchen und Doppelpunkte verwendet werden dürfen“, sagt die Pressesprecherin. Allerdings: „Eine neue Verwaltungsrichtlinie gibt es noch nicht, einige Behörden setzen die neue Regelung jetzt schon um, ohne nähere Detailfragen im Vorfeld zu klären.“ In der Schulbehörde müsse man diese Fragen noch ausarbeiten. Und das kann dauern, da ein so großes System Reglungen nicht ständig überarbeiten und ändern kann, wie Luisa Wellhausen betont. Wenn es soweit ist, sind 256.870 Schüler*innen und 19.283 Pädagog*innen sowie die Mitarbeiter*innen in der Verwaltung davon betroffen.
Seit diesem Jahr haben die Hamburger Behörden vereinbart, dass freiwillig auch Sternchen und Doppelpunkte verwendet werden dürfen.
Luisa Wellhausen, Pressestelle Behörde für Schule und Berufsbildung
Was nun?
Zu wünschen wäre eine überarbeitete Richtlinie. Denn Sprache schafft Realitäten, das ist keine neue Erkenntnis. Oder, um es mit Esther van Lück von der Uni Kiel zu sagen: „Besonders wenig nachvollziehbar ist, dass die Interessen von Schüler*innen als Begründung herangezogen wurden – dabei ist Diversität und Geschlechtervielfalt doch längst Teil ihrer eigenen Lebensrealität. Kinder haben queere Eltern und/oder Bezugspersonen. Eine Sprache, die dies nicht miteinschließt, geht an der Realität vorbei und spricht Menschen ihre Identität ab.“ Gerade in der Schule sollten Kinder wertgeschätzt werden und Wertschätzung lernen. „Mal abgesehen davon, dass außerhalb der Schule sowieso immer mehr geschlechtergerechte Sprache verwendet wird und Kinder auch dies mitbekommen.“
Kinder haben queere Eltern und/oder Bezugspersonen. Eine Sprache, die dies nicht miteinschließt, geht an der Realität vorbei und spricht Menschen ihre Identität ab.
Esther van Lück, Uni Kiel
Kommentare zu diesem Text könnt ihr uns ebenfalls in unseren sozialen Netzwerken hinterlassen und dort mit über 125.000 Menschen teilen!