Gesellschaftliches Gaslighting

Gesellschaftliches Gaslighting

Eine Kolumne von Nils Pickert

Triggerwarnung: Die folgenden Inhalte behandeln Themen wie psychische Gewalt und Diskriminierung.

Es ist wirklich nicht einfach, sich dieser Tage gedanklich zu sortieren und herauszufinden, wer wo steht und welche Meinung vertritt. Mir scheint, wir haben seit einiger Zeit eine Phase des gesellschaftlichen Gaslightings erreicht, aus der wir nur schwerlich wieder herauskommen werden.

Gaslighting bezeichnet eine Form von psychischer Gewalt, bei der das Opfer durch Verschleierungstaktiken, Lügen und Einschüchterungen so verunsichert wird, dass es an der eigenen Wahrnehmung zweifelt und zunehmend desorientiert, Realität von manipulierter Fiktion nicht mehr unterscheiden kann. Den Punkt, dass ein solches Verhalten auf breiter gesellschaftlicher Ebene gang und gäbe ist, haben wir längst überschritten. Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich den Begriff überhaupt in diesem Zusammenhang verwenden sollte. Es gibt eine ungute Tendenz, Bezeichnungen für psychische Erkrankungen und Phänomene, in einem sehr viel breiteren Zusammenhang zu verwenden, wodurch die Bezeichnung unscharf wird. Den Begriff Trigger zum Beispiel. Ursprünglich aus der Traumapsychologie stammend, steht „das triggert mich voll“ heute häufig lediglich für „das nervt mich/macht mich nervös/belastet mich“. Von dem Vorwurf, psychologische Begriffe für alltägliche Lappalien zu verwenden, kann ich mich leider nicht freisprechen. Aber für gesellschaftliches Gaslighting fällt mir einfach nichts anderes ein.

Was sollten diese ganzen Aber-Sätze denn sonst sein?
„Ich hab nichts gegen Ausländer, aber …“
„Ich bin ja auch für Gleichberechtigung, aber …“
„Ich halte Klimaschutz auch für wichtig, aber …“

Sie sind der Versuch, eine eigentlich durch Rassismus, Frauenverachtung und Klimaignoranz geprägte Realität umzudeuten, damit bloß kein Handlungsbedarf erzeugt wird. Diese Form der Gewalt wird vor allem gegen Frauen und marginalisierte Gruppen angewendet. Ihnen wird ständig gesagt, dass doch eigentlich alles in Ordnung ist. Dass nicht wirklich etwas Schlimmes passiert ist, sie sich doch bitte nicht so aufregen mögen und nicht so haben sollen. Alles halb so schlimm. Gleichzeitig feiert dieses Land nach einem rechten Terroranschlag einfach Karneval.

67 rechte Chatgruppen mit teilweise pädokriminellem Bildmaterial wurden allein bei der hessischen Polizei gefunden. 110 Polizeikräfte waren darin verwickelt. Gleichzeitig sucht man nicht wirklich danach. Deutschland taumelt von einem „Einzelfall“ um nächsten, während Menschenrechtsorganisationen aufgrund rassistisch motivierter Polizeigewalt unabhängige Untersuchungsmechanismen und Kontrollgremien fordern. Aber nein, alles halb so schlimm. Gehen Sie weiter, regen Sie sich nicht so auf, es gibt nichts zu sehen. In der deutschen Sprache hat der Begriff „Einzelfall“ offenbar zwei verschiedene Bedeutungen.

Nicht so aufregen sollen sich übrigens auch trans Menschen. Immerhin ist die „militante Translobby“ eine unfassbar einflussreiche Gruppierung in unserem Land, die über das öffentlich-rechtliche Fernsehen „unsere Kinder sexualisiert und umerzieht“.

Kindern zu vermitteln, dass es übrigens auch trans Menschen gibt, Vielfalt eine gute Sache ist und jedem Menschen die gleichen Rechte zustehen, ist also Umerziehung. Aber klar doch.
Und ja, auch Frauen bilden sich das alles nur ein: Sexualisierte Gewalt, Femizide, schlechte Bezahlung, reproduktive Entmündigung, fehlende Repräsentation, Care-Gap. Was haben die eigentlich alle, denen geht es doch gut bei uns. Reg dich nicht so auf, Schätzchen, scht, schscht, das bildest du dir bloß ein!

Die weiß-deutsche Mehrheitsgesellschaft in diesem Land treibt mit Frauen und marginalisierten Gruppen ein übergriffiges Spiel, das ich aus meiner Kindheit kenne: Ein Bully sucht sich ein körperlich unterlegenes Kind als Opfer, packt seinen Arm und schlägt es mit der eigenen Hand ins Gesicht.
„Warum haust du dich selbst, haha?! Warum haust du dich selbst?!“ Die weiß-deutsche Mehrheitsgesellschaft ist dieser Bully. Und als wäre das nicht schlimm genug, wird anschließend immer wieder und auf allen Ebenen so getan, als hätte sich das Opfer wirklich selbst geschlagen. Oder es wäre zu seinem eigenen Besten. Oder als wäre überhaupt nichts passiert.

Menschen, die systematische Diskriminierung erfahren, sind doppelt erschöpft und verletzt. Zum einen von der unmittelbaren Diskriminierungserfahrung und zum anderen vom gesellschaftlichen Gaslighting. Sie müssen Aufwand betreiben, Arbeit leisten, Communitys bilden, um sich selbst und einander zu vergewissern, dass das alles wirklich so passiert. Sie müssen sich dagegen zur Wehr setzen, dass ihnen die Realität im übertragenen und im wörtlichen Sinn aus den Köpfen geschlagen wird.
Deshalb kann sich antidiskriminierendes Verhalten auch nicht darin erschöpfen, seine Mitmenschen nicht zu diskriminieren und andere aufzufordern, das ebenfalls zu unterlassen. Es muss auch einen klaren Einspruch gegen das gesellschaftliche Gaslighting beinhalten: Nein, das bildet ihr euch nicht ein. Das ist wirklich passiert.


Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen bzw. Männern und Jungs sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich und männlich gelesenen Personen betreffen.

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