Vor wenigen Wochen wurde in Deutschland die BKA-Statistik zur häuslichen Gewalt im Vorjahr, sogenannter Partnerschaftsgewalt, veröffentlicht – begleitet von den üblichen, selten lange andauernden Berichten in den Medien, die dieses Problem aufgreifen: 2019 wurden 141.792 Menschen Opfer häuslicher Gewalt – davon 81 % Frauen. Das ist knapp ein Prozent mehr als noch 2018, in den letzten Jahren konnte ein kontinuierlicher Anstieg der Fälle beobachtet werden. Und dabei sind das nur Zahlen aus Kriminalstatistiken – während ein Großteil der Fälle nie zur Anzeige kommt, sodass mit einer erheblichen Dunkelziffer gerechnet werden kann. Wir tendieren dazu, uns solche großen Zahlen schlecht vorstellen zu können – ich möchte es daher anders sagen:
– Kriminalstatistische Auswertung – Partnerschaftsgewalt – Berichtsjahr 2019
Für 2020 gibt es noch keine Zahlen, aber die Prognose ist beunruhigend. Umfragen während des Corona-Lockdowns im März und April ergaben, dass die Beratungskontakte bei Hilfstelefonen um ca. 20 % gestiegen sind. Die TU München stellte in einer repräsentativen Umfrage im Juni fest, dass während der Kontaktbeschränkungen 3 % der Frauen zu Opfern körperlicher Gewalt wurden, weitere 3,6 % wurden in dieser Zeit vergewaltigt. Dass der Lockdown zu einem weiteren Anstieg der Gewaltfälle führte, verwundert nicht, stellt doch ihr eigenes Zuhause für gewaltbetroffene Frauen oft den gefährlichsten Ort dar.¹
Für gewöhnlich reichen diese Zahlen dazu aus, kurz die Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit zu erregen – und danach wieder in der Versenkung zu verschwinden. Eine Botschaft, die dabei selten transportiert wird, ist, dass häusliche Gewalt sich nicht in einem luftleeren Raum ereignet, sondern in einer Gesellschaft, die Frauen weiterhin strukturell diskriminiert und Täterverhalten entschuldigt oder dieses durch die Eröffnung von Schutzlücken sogar ermöglicht.
Ein Beispiel für einen strukturell bedingten Grund, der Frauen dazu veranlasst, sich weiterhin gewalttätigen Beziehungen auszusetzen, ist die wirtschaftliche Abhängigkeit von ihrem Partner. Frauen arbeiten in Deutschland aktuell häufiger in Teilzeit, weil sie Kinder oder Angehörige pflegen und damit einen Großteil der unbezahlten Care-Arbeit auf sich nehmen. Dies verschärfte sich durch die Corona-Bedingungen – nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung wandten Mütter in den Lockdown-Monaten im März und April 2020 für die Betreuung von ihren Kindern unter 11 Jahren durchschnittlich 9,6 Stunden pro Werktag auf – und damit über vier Stunden täglich mehr als Väter.² Außerdem sind Berufe, die typischerweise von Frauen ergriffen werden, oft schlechter bezahlt – kumulativ führen diese Bedingungen dazu, dass Frauen in Deutschland im Durchschnitt noch immer 20 % weniger verdienen als Männer.
Als Familienrechtsanwältin berate ich u.a. gewaltbetroffene Frauen, die sich trennen wollen oder gerade getrennt haben. Ich erlebe häufig, dass Ratsuchende zu mir kommen, die in einer gewalttätigen Beziehung leben – sich aber nicht trauen, den Schritt zu einer Trennung zu machen, weil sie Angst haben, sich diese finanziell nicht leisten zu können. Hinzu kommt, dass in solchen Beziehungen nicht selten der Partner die Teilhabe der Frau an der Gesellschaft verhindern will – das kann beispielsweise dadurch passieren, dass er ihr die Teilnahme an Sprachkursen verwehrt oder es ihr erschwert, einen eigenen Job zu ergreifen oder weiter auszuüben. Frauen, die sich in einer solchen Situation befinden, haben dann die Wahl zwischen der Gefahr der gewalttätigen Beziehung oder dem Abrutschen in Armut.
In unserem System finden sich aber noch weit mehr Schutzlücken für von Gewalt betroffene Frauen. Ich möchte den Blick auf die Istanbulkonvention lenken: Hierbei handelt es sich um ein Völkerrechtsabkommen des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt von 2011 – als Vertragspartei ist Deutschland verpflichtet, die dort geregelten Bestimmungen umzusetzen. Dies geschieht bisher jedoch noch nicht ausreichend: So schreibt die Istanbulkonvention beispielsweise vor, dass flächendeckend ausreichende Plätze in Schutzeinrichtungen zur Verfügung gestellt werden. Nach einer Schätzung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages von 2019 fehlen jedoch in Deutschland knapp 15.000 Plätze in Frauenhäusern ³ . Und selbst die bestehenden Plätze sind nicht für alle von Gewalt betroffenen Frauen zugänglich: Nur ca. 10 % der Frauenhäuser sind behindertenfreundlich⁴, obwohl Frauen mit Behinderungen überdurchschnittlich häufig von Gewalt betroffen sind. ⁵ Diese Schutzlücke ist vor allem für Frauen relevant, die kein starkes soziales Netz haben und deshalb nicht bei einer Freundin unterkommen oder sich kein Hotel leisten können. Daher sind vor allem migrantische Frauen und solche in finanziell prekären Situationen von den mangelnden Schutzangeboten betroffen.
Eine weitere Vorgabe der Istanbulkonvention ist, dass vorangegangene Gewalttaten in Umgangsverfahren (Verfahren, in denen die Eltern sich über Kontakte mit den Kindern streiten) berücksichtigt werden müssen. Explizit bedeutet das, dass Vätern, die gegenüber Mutter und Kindern gewalttätig geworden sind, kein oder nur ein sehr beschränkter Umgang mit den Kindern zugestanden werden sollte. In der Praxis erlebe ich jedoch regelmäßig, dass Gerichte fast immer zumindest einen begleiteten Umgang, das heißt ein Umgang in Begleitung einer dritten Person, anordnen. Dabei sind Kinder, die Gewalt von ihrem Vater entweder am eigenen Körper erlebt oder an ihrer Mutter beobachten konnten, oft zutiefst traumatisiert, so dass sich auch ein begleiteter Umgang retraumatisierend auf sie auswirken kann. Außerdem kommt es immer wieder vor, dass der begleitete Umgang strategisch vom Täter ausgenutzt wird, um einen Kontakt mit der Mutter zu erwirken, obwohl eigentlich ein Kontaktverbot zu ihr besteht. Das hat dramatische Folgen für die gewaltbetroffenen Mütter, die auf diese Art und Weise wieder gefährlichen Aufeinandertreffen mit dem Täter ausgesetzt sind.
Eine Frau, die sich von einem gewalttätigen Partner befreien will, hat über die genannten Hürden hinaus zudem damit zu kämpfen, dass ihr Leid nicht ernst genommen oder ihr sogar die Schuld für das Verhalten des Täters gegeben wird. Diese Täter-Opfer-Umkehr findet nicht nur im gesellschaftlichen Diskurs statt, wenn nach einer Gewalttat zunächst gefragt wird, ob sie ihn nicht provoziert habe – ich erlebe sie leider auch im gerichtlichen Alltag. Frauen, die gerichtlich dafür kämpfen, dass ihr gewalttätiger Expartner keinen oder nur einen begrenzten Umgang mit den gemeinsamen Kindern haben soll, werden zum Beispiel von Richter:innen gefragt, warum sie denn überhaupt Kinder mit ihm gezeugt hätten, „wenn er doch so schlimm ist“. Ein anderes Mal habe ich erlebt, dass eine Verfahrensbeiständin in einem Umgangsverfahren, in dem die Mutter mehrfach das Frauenhaus wechseln musste, weil der Vater die Adressen immer wieder herausfand und sie und die Kinder bedrohte, der Mutter vorwarf, dass dieses „Frauenhaushopping“ den Kindern nicht gut tue.
Dieses Framing, welches eine Schuld der Mutter vermuten lässt, kann reale Folgen für die Betroffene haben: Wenn sie es beispielsweise geschafft hat, ein Kontaktverbot gegen den gewalttätigen (Ex-) Partner zu erwirken, kann dieses wieder aufgehoben werden, wenn ihr vorgeworfen wird, den Kontakt eigenständig wiederaufleben lassen zu wollen. Dabei wird nicht berücksichtigt, in welcher psychischen Situation sich Frauen, die gerade einer toxischen und gewalttätigen Beziehung entkommen sind, befinden. Ich erlebe häufig, dass Mandantinnen nachhaltig psychisch von der ausgeübten psychischen und physischen Gewalt gegen sie betroffen sind – und, anders als der Gesetzgeber oder Gerichte sich das für ein typisches „Opferverhalten“ vorstellen, Ambivalenzen mit sich ausmachen müssen. Sie können aus verschiedensten Gründen dazu bewogen sein, einen Kontakt aufzunehmen – zum Beispiel, weil ihnen vermittelt wurde, ohne ihren Partner nichts wert zu sein oder ihre Teilhabe an der Gesellschaft so lange verwehrt wurde und sie kaum ein soziales Netz haben, was ein Leben alleine erheblich erschwert. Die Aufhebung von Gewaltschutzbeschlüssen führt aber dazu, dass sie praktisch schutzlos gestellt werden. Und ereignen sich dann erneut Gewalttaten, werden diese Frauen in einem nächsten Verfahren häufig als weniger glaubwürdig eingestuft – denn, wenn sie zu ihm zurückgegangen ist, sei sie ja selbst schuld.
Eine Verharmlosung der Gewalttaten erlebe ich auch im Diskurs in sozialen Medien: Wenn ich aus meinem beruflichen Alltag twitter und von Mandantinnen berichte, die Gewalttaten von ihrem Partner erleiden, erhalte ich Kommentare wie: „Aber es gibt auch Gewalt gegen Männer, weshalb berichtest du nicht darüber?“ – oder „Nicht alle Männer sind gewalttätig, das ist männerfeindlich“. Um das hier einmal kurz klarzustellen: Ja, es gibt auch Gewalt gegen Männer und es ist wichtig, dass darüber gesprochen wird. In Deutschland sind jedoch über 80 % der Betroffenen von häuslicher Gewalt Frauen und in meinem Beruf habe ich fast ausschließlich mit diesen zu tun. Wenn ich über diese Fälle berichte, dann dient das der Darstellung ihrer Realität. Ich heiße es sehr willkommen, wenn jemand im Bereich Partnerschaftsgewalt gegen Männer arbeitet und darüber berichtet – nur diese Person bin nun einmal nicht ich. Wenn daher unter meinen Beiträgen regelmäßig über Gewalt gegen Männer gesprochen wird, wird damit das reale Problem kleingeredet, von dem ich eigentlich berichte. Und die Folgen dieser Verharmlosung bekommen letztendlich die Frauen zu spüren, deren Gewalterfahrungen nicht ernst genommen oder ihnen sogar vorgeworfen werden.
Ich kann daher nur abschließend dafür appellieren, das Problem von Gewalt gegen Frauen als solches anzuerkennen, es ernst zu nehmen und regelmäßig, nicht nur alljährlich im November zur Veröffentlichung der BKA-Statistik, darüber zu berichten. Jede vierte Frau in Deutschland hat bereits Gewalt von ihrem (Ex-)Partner erlebt – wahrscheinlich hat also jede*r von uns sowohl Betroffene als auch Täter häuslicher Gewalt in ihrem*seinem persönlichen Umfeld. Gerade während der Corona-Zeit gibt es genügend Grund zu Annahme für gestiegene Gewaltfälle. Lasst uns nicht aufhören, darüber zu sprechen, Betroffenen unsere Hilfe anzubieten und Politik, Gesetzgeber und Justiz für die Durchsetzung eines effektiven Gewaltschutzes in die Verantwortung zu nehmen.
¹ Zahlen entstammen der Studie „The Impact of COVID-19 on violence against women and children in Germany” der TU München
² Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: Kinderbetreuung in Corona-Zeiten
³ WD 9-3000-030/19
⁴ Deutscher Juristinnenbund e.V., Istanbulkonvention: Umsetzungsdefizite bei Frauenschutzhäusern und Schutzunterkünften
⁵ Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Zweiter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Teilhabe – Beeinträchtigung – Behinderung, 2016, S. 413
Bild: Unsplash
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