Gewalt ist mehr als ein Familiendrama

Über die Feiertage ist es immer besonders schlimm. Das ist ein sehr offenes Geheimnis. „Zu keiner Zeit im Jahr flüchten sich mehr Frauen, oftmals mit ihren Kindern, in Frauenhäuser als an Weihnachten“ sagte der damalige Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter 2017. Darüber, wie sehr sich diese Situation mit Corona und unter Lockdown-Bedingungen noch verschärft, haben wir im vergangenen Jahr mehrfach berichtet. Auch die Politik weiß um diese Entwicklung. Um die größere Gefahr, um das Mehr an Gewalt, um die Verdopplung von Straftaten in diesem Bereich. Und doch wird in deutscher Sprache immer wieder über Gewaltverbrechen an (Ex)Partnerinnen und/oder Kindern so berichtet, als wäre es ein Versehen, eine kontextlose Einzeltat. Und nicht etwa ein systemisches Problem:

Familientragödie“ wird das in deutschsprachigen Medien genannt.

Beziehungstat„.

Familiendrama„.

Verschmähte Liebe„.

Von manchen sogar: „Weihnachtsmord„.

Und das obwohl Verbände, Vereine, Aktivist*innen und zunehmend auch Journalist*innen sich seit Jahren darum bemühen, mit einer angemesseneren Sprache diese Verbrechen und die Systematik dahinter in die Wahrnehmung der Öffentlichkeit zu transportieren. Denn solche Begriffe erklären nur scheinbar etwas. Tatsächlich verschleiern und verharmlosen sie.

Dabei gäbe es Begriffe, die präzise beschreiben, was da eigentlich passiert, wieso es einer Epidemie gleichkommt und wie die Motivlagen einzuschätzen sind. Femizid zum Beispiel als Bezeichnung der Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts findet immer mehr Beachtung und Verwendung – wenn auch nach wie vor zu wenig.

Von Familizid hat jedoch im deutschsprachigen Raum kaum jemand gehört – bis auf wenige Menschen, die sich eingehender mit Gewaltverbrechen beschäftigen. In anderen Sprachen wie Englisch, Finnisch, Italienisch, Portugiesisch, Arabisch und Mandarin ist er gebräuchlicher. Historisch betrachtet wird damit die Ausweitung einer Bestrafung auf Familienmitglieder bezeichnet. In der Gegenwart werden damit vor allem Fälle von Familienauslöschung beschrieben – auch so ein Begriff, der im Deutschen kaum bis gar keine Rolle spielt, obwohl er es sollte. 2010 benutzte ihn der Soziologe Walter Hollstein in einem Artikel, in dem er unter anderem festhielt: „Familienauslöschung ist Männermonopol“ (Studien gehen davon aus, dass zu 91 bis 95% Männer die Tat begehen). Aber während man in anderen Sprachen und Ländern durchaus darüber nachdenkt, wieso ein „familiy anihilator“ tut, was er tut, ist man im deutschsprachigen Raum nicht nur sprachlich leider viel zu weit davon entfernt, die entsprechenden Zusammenhänge herzustellen. Dass Männer zum Beispiel zu Tätern werden, wenn Scheidung droht. Oder wenn sie Scham darüber empfinden, dass sie Geldprobleme haben und die vorgeblich heile Fassade zur Außenwelt nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. Dass es um Anspruch, Ohnmacht, Kränkung und toxische Männlichkeit geht und die Täter sich gerne bedeutsame Termine wie Vatertag oder Weihnachten aussuchen, um (Ex)Partnerin, Kinder und gegebenenfalls weitere Familienmitglieder zu ermorden. All das müsste uns zutiefst beunruhigen und beschäftigen. Aber nicht nur weil es nicht beunruhigt, sondern auch damit es das nicht tut, wird spezifische, systematische Gewalt in Verharmlosungen gekleidet. Damit die Schlagzeile sitzt und niemand sich Gedanken machen muss – bis zum nächsten Mal. Denn das kommt bestimmt.

Anmerkung: Uns ist bewusst, dass der Text nur eine binäre Perspektive darstellt und sich nur auf cis-Familien bezieht. Die Gewalt, der nicht-binäre Menschen und trans*Menschen jeden Tag ausgesetzt sind, ist um ein Vielfaches größer. Diesem Thema wollen wir uns ausführlich in einem extra Artikel widmen.

Hilfe- und Beratungsangebote:

Hilfetelefon – Gewalt gegen Frauen – rund um die Uhr erreichbar unter der kostenlosen Nummer 08000 116 016 – https://www.hilfetelefon.de/

Hilfetelefon Sexueller Missbrauch – rund um die Uhr erreichbar unter der kostenlosen Nummer 0800 22 55 530 https://www.hilfeportal-missbrauch.de

Suche nach Hilfe-Einrichtungen in der Umgebung – https://www.frauen-info-netz.de/

ProFamilia – Suche nach Beratungsstellen in der Umgebung: https://www.profamilia.de/

Bild: Unsplash

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