Triggerwarnung: Der folgende Inhalt behandelt unter anderem die Themen Sexismus und Queerfeindlichkeit
»Nur eine kann Germany’s Next Topmodel werden.« Wie oft haben wir uns gewünscht, dass dieser Satz endlich Geschichte ist. Und dieses Jahr ist unser Traum in Erfüllung gegangen! Allerdings nicht so, wie wir uns das vorgestellt hatten. Jetzt sind’s nämlich zwei: Einer und eine. Denn zum ersten Mal lassen sich bei Germany’s Next Topmodel nicht nur Frauen öffentlich vorführen, be- und abwerten, sondern auch Männer. Oder in Heidis Worten: »Boys«.
»So divers wie nie« sollte die 19. Staffel von GNTM laut Vorankündigung werden. Jährlich grüßt das Murmeltier. Denn, dass Sexismus out und Diversität in ist, ist seit einigen Jahren auch beim sexistischen Flaggschiff von Pro7 angekommen.
Um eine Idee davon zu bekommen, was sich die GNTM-Macher*innen unter Diversität vorstellen, reicht ein Blick auf die offizielle Website: »So divers war ›Germany’s Next Topmodel‹ noch nie, denn in dieser Staffel hat Modelchefin Heidi Klum erstmalig Männer eingeladen. Damit sind keine Geschlechter-Grenzen mehr gesetzt«, heißt es da. Aha, divers heißt also männlich. Und männlich + weiblich = Geschlechtergrenzen überwunden? Aha, aha. Diese Aussage ist nicht nur falsch, sondern absurd. Dahinter steckt offensichtlich eine Verteidigungsstrategie. Denn das Konzept eines Schönheitswettbewerbs ist längst nicht mehr zeitgemäß. Darum die neue Message: »Aber wir stehen doch jetzt für was Gutes!«
Neue Staffel, gleiche Klischees
Schauen wir uns den diesjährigen Cast im Hinblick auf die viel zitierte »Diversity« mal genauer an: Ja, es gibt Schwarze Menschen und People of Color unter den Teilnehmenden. Längst überfällig, aber lange nicht ausreichend, um die Vielfalt unserer Gesellschaft abzubilden. Und was gibt es zum Thema Körperbild zu sagen? Ein paar wenige Plus-Size-Models gibt’s im Cast. Aber mal ehrlich: Allein dieser Begriff sorgt für einen verzerrten Blick in den Spiegel: Denn schon ab Größe 38 fallen weibliche Models in der Branche in die Kategorie »Plus-Size«. Kurzer Reality Check: Die durchschnittliche Konfektionsgröße von Frauen in Deutschland liegt bei Größe 44. Der Großteil der Kandidaten trägt Waschbrettbauch, die meisten Kandidatinnen sind auch dieses Jahr dünn und normschön. Entsprechen also der gesellschaftlichen, patriarchal-kolonial geprägten Vorstellung von Schönheit. Die einzige Teilnehmerin über 30 wird in die Rolle der Power-Mom gesteckt und immer wieder für ihren »mega Body« gelobt, dem man gar nicht ansehe, dass er schon vier Kinder geboren hat. Als wäre das, was am meisten zählt: Kinder gebären, aber dann bitte anschließend husch husch, ab ins Gym. Kapitalismus und Patriarchat schütteln sich die Hände.
An den gewohnten Routinen ändert sich wenig. Unterwassershooting (irgendwer muss immer panisch abbrechen), Höhenwalk (aka Teilnehmende dazu zwingen, zitternd ihre Höhenangst zu »überwinden«), Nacktshooting (wollen wir ja mal sehen, wer sich nackt unter bewertenden Blicken im eigenen Körper wohlfühlt – und wehe nicht!), Umstyling (dieses Mal bringen GNTM’s Friseur*innen auch Männer aus der Fassung, was Pro7 unglaublich amüsant findet. »Echte Männer« weinen schließlich nicht). Wir halten fest: Selbstausbeutung funktioniert auch unabhängig von Geschlechtsidentitäten erstaunlich gut.
Sichtbarkeit vs. Pinkwashing
Die Show hat wenig mit der echten Modewelt zu tun. Hatte sie auch noch nie. Sie ist vor allem eine Reality-Show, die Geld bringen soll. Das Wohlergehen der Kandidat*innen wird dafür als Kollateralschaden gerne in Kauf genommen. Germany’s Next Topmodel ist der Kapitalismus himself im Diversity Dress. Ist das jetzt Sichtbarkeit oder einfach nur frech? Vermutlich ein bisschen von beidem.
Dabei wird Heidi nicht müde, zu betonen, dass das Wohl der Kandidat*innen für sie an erster Stelle stehe. Zum Beispiel, als ein Kandidat ins Krankenhaus fährt, um eine Verletzung abzuklären. Als wäre es ein Zugeständnis und keine Selbstverständlichkeit, dass der nicht mit querstehendem Finger über den Laufsteg geschickt wird.
Auch dieses Jahr: #KeinBildFürHeidi
Konkurrenz, Leistung und Selbstoptimierung stehen auf der Bewertungsskala ganz oben, Introvertiertheit wird als Makel geframed. Das ultimative Ziel: die eigenen Grenzen überwinden. Wer sich dabei unwohl fühlt, soll sich das bitte wenigstens nicht anmerken lassen. Hätte das Patriarchat eine Gebrauchsanleitung für die weibliche Lebensführung geschrieben, würde sie wohl genau so lauten. Nun sind bei GNTM auch Männer Teil dieser Bewertungsskala. Wir sind gespannt, was die nach der Sendung darüber zu sagen haben…
PINKSTINKS Vorständin Lara Wichels hatte die Grenzüberschreitungen und den Sexismus der Sendung schon 2018 so satt, dass sie gemeinsam mit einer Hamburger Schule den Anti-GNTM-Song »Not Heidis girl« aufnahm. Und mit dem Hashtag #KeinBildFürHeidi auf die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche aufmerksam machte.
Das Bizarrste an der diesjährigen Staffel sind aber tatsächlich nicht die manipulativen Dynamiken, nicht Heidis schrille Auftritte, die erzwungenen Gespräche mit Gastjuror*innen, die die »Modelmama« gern und häufig unterbricht, nicht die absurden Shootings oder inszenierten Flirts. Das Bizarrste ist die plakative Heteronormativität, in die die gar nicht mal so heteronormativen Kandidat*innen immer wieder gepresst werden.
Queerness als gern getragenes Accessoire
Denn damit sich niemand vertut: GNTM kennt nur zwei Geschlechter und die werden klar getrennt. Im Intro, bei Walks, im Modelhaus. Frauen und Männer posieren zwar miteinander bei sexy Shootings. Aber Frauen konkurrieren mit Frauen. Männer konkurrieren mit Männern. Deshalb kann es dieses Jahr ausnahmsweise zwei Gewinner*innen geben: »Eine« und »einen«.
Ganz klar: Es ist gut und wichtig, dass trans* Personen (mittlerweile) Teil der Sendung sind. Aber wenn öffentlich angekündigt wird, es gäbe bei GNTM »keine Geschlechtergrenzen mehr«, würden wir schon erwarten, dass auch Menschen abseits der binären Schubladen mitgedacht werden: Zwar ist auch eine genderfluide Person dabei, die in der Kategorie »Mann« teilnimmt, aber für die Thematisierung vielfältiger Geschlechteridentitäten hat Pro7 kaum Sendezeit übrig.
Dabei fordern einzelne Teilnehmende die heteronormativen Schubladen durchaus heraus: Männer in Kleidern, Männer mit Make-up, Männer mit unterschiedlicher sexueller Identität. Dass Männlichkeit abseits von stereotypen Männlichkeitsidealen sichtbar gemacht wird, feiern wir sehr! Aber anstatt die veralteten Rollenbilder der Sendung folgerichtig zu hinterfragen, schubst Heidi alle, die gerade über den Rand der jeweiligen Schublade klettern wollen, rücklings wieder rein. Die Queerness einzelner Kandidat*innen ist ein gern getragenes Accessoire der Sendung, die sonst wenig vielfältig ist, sich aber laut damit rühmen möchte. In den Kommentarspalten auf Social Media mischt sich Fandom mit Sexismus, Rassismus und Queerfeindlichkeit.
Warum ihr das Finale skippen solltet – und was wir stattdessen machen
Jetzt sagen die Abgeklärten unter euch vielleicht: »Das ist eben Trash-TV! Was will man erwarten?« Und haben damit einerseits Recht. Andererseits unterscheidet sich GNTM in einem wichtigen Punkt von anderen Trash-TV-Formaten: Es prägt das Körperbild von jungen Menschen (besonders von Mädchen, Frauen und queeren Personen) maßgeblich mit: 2017 lag der Marktanteil beim Finale bezogen auf Frauen zwischen 14 und 29 Jahren bei 48,9 %. Das heißt, fast jede zweite fernsehende Frau (!) in diesem Alter schaute zu, während »die Eine« gekrönt wurde. Jede ZWEITE!
Immerhin: Die Quoten sinken. Die durchschnittliche Anzahl der Zuschauer*innen lag 2023 sogar auf einem historischen Tiefstwert. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass immer mehr Zuschauer*innen Heidis Parade durchschauen?
So oder so: Wir skippen das Finale. Und denken in der gewonnenen Lebenszeit vielleicht über einen neuen Song nach. Eine Idee für den Songtitel haben wir schon: »Not Heidis boy!«
Wenn wir von Frauen und Männern sprechen, beziehen wir uns auf strukturelle gesellschaftliche Rollen, die weiblich und männlich gelesene Personen betreffen bzw. die binären Teilnahmekategorien, in die GNTM alle Kandidat*innen einordnet. Gleiches gilt für die Adjektive »weiblich« und »männlich«. In Statistiken und Studien, die wir zitieren, wird leider oft nur zwischen Frau und Mann differenziert.
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Bildquelle: Pinkstinks Germany e.V.