Haare haben kein Geschlecht

Eigentlich sollte das Thema durch sein. Ehrlich, wir haben 2021. Harry Styles trägt langes Haar …

… Jason Momoa sowieso …

… und nachdem wir in den letzten Jahrzehnten mehrere Wellen von modischen Langhaarfrisuren für Männern gesehen haben und einige Subkulturen schon länger auf wallende Männermähnen setzen, sollte sich allmählich die Erkenntnis durchgesetzt haben, dass lange Haare kein Geschlecht haben. Leider ist dem nicht so. Lange Haare werden immer noch mit Weiblichkeit assoziiert. Männer und vor allem Jungen werden immer noch vermeintlich unmännlicher Umtriebe verdächtigt, wenn sie sich die Haare über Kinnlänge hinaus wachsen lassen: „Was ist mit dem Jungen? Ist der etwa ein Mädchen?!“

Was soll das? Was ist das? Woher kommt die absurde Vorstellung, dass lange Haare unmännlich sein könnten? Immerhin brauchen Menschen, denen Kopfhaare wachsen, nur eine geraume Zeit zu warten und sie haben lange Haare. Das ist kein Geheimnis und schon gar kein geschlechtsspezifisches Geheimnis. Zumal geschichtlich betrachtet Männer mit langen Haaren eine lange Tradition haben. Die alttestamentarischen Nasiräer legten einen asketischen Eid ab, der unter anderem beinhaltete, sich für einen gewissen Zeitraum oder für unbegrenzte Dauer nicht mehr Haupt und Barthaar zu schneiden. Die Rastafari, die ursprünglich an diese Tradition anknüpfen wollten, bis Haile Selassie, der letzte Kaiser von Abessinien und ihr Messias, wieder auf dem Thron sitzt, tun dies heute noch. Auf bildlichen Darstellungen antiker Kulturen sind rund um den Globus wie selbstverständlich langhaarige Männer zu finden: Götter, Herrscher, Krieger, Händler, Diener. Trotzdem gab es auch schon sehr früh die Vorstellung, dass lange Haare Männern nicht gut zu Gesicht stehen. In der griechischen Antike galten lange Haare nach anfänglicher übergeschlechtlicher Verbreitung als etwas, das mit Zeit und Aufwand gepflegt werden muss, Männer dementsprechend nur vom „Wesentlichen“ ablenkt und sie zu Hochmut und Eitelkeit verleitet. Im alten Rom waren Kurzhaarschnitte unter Männern gerade mit Blick auf die militärische Ausbildung populär. Während sich die Kelten mit gekalkten langen Haaren und teilweise nackt in die Schlacht warfen, verordnete Caesar seinen Legionären einen Kurzhaarschnitt.

Und dann ist da noch die Bibel. Im ersten Brief an die Korinther macht Paulus zum Thema Haare klare Ansagen:
„Lehrt euch nicht die Natur selbst, dass es für einen Mann eine Unehre ist, wenn er langes Haar trägt, aber für eine Frau eine Ehre, wenn sie langes Haar hat? Das Haar ist ihr als Schleier gegeben. Ist aber jemand unter euch, der darüber streiten will, so soll er wissen, dass wir diese Sitte nicht haben – und die Gemeinden Gottes auch nicht.“

Lange Haare sind also eine Unehre für Männer, weil die Natur uns das so lehrt. Darüber zu streiten lohnt sich nicht, weil das bei uns eben so ist. Das ist nicht nur vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Jesus gemeinhin langhaarig dargestellt wird, doch ziemlich interessant. Denn wie, auf welche Weise und was genau „die Natur“ uns über die Haarlänge von Männern und Frauen lehren soll, wird überhaupt nicht klar. Fest steht, dass vom Mittelalter über die Renaissance bis in die Neuzeit auch in christlich geprägten Ländern Männer durchaus lange Haare trugen – entweder eigene oder in Form einer Perücke. Das galt als Anzeichen für adlige, reiche oder besonders freigeistige Männer. Die zunehmende Militarisierung Europas im 19. und insbesondere im 20. Jahrhundert sorgte auf den Köpfen vieler Männer für Kurzhaarschnitte. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten allerdings mehr und mehr Männer Lust darauf, sich von dem „Wesentlichen“, dass aus Drill, Gewalt und Gehorsam zu bestehen schien, ablenken zu lassen. In den 60er Jahren versuchte man auf beiden Seiten der Mauer den „Hippies, langhaarigen Bombenlegern und Rowdys“ Herr zu werden. Im Westen galt mit Blick auf die Bundeswehr ein sogenannter Haarerlass, der „das Tragen einer schulterlangen oder sonst feminin wirkenden Haartracht“ verbot. Helmut Schmidt erließ als damaliger Verteidigungsminister 1971 den sogenannten Haarnetz-Erlass und ließ die Bundeswehr zu diesem Zweck mit rund einer Dreiviertelmillion Haarnetzen ausstatten. Ein Jahr später wurde das Gesetz wieder kassiert, weil sich unter anderem der Wehrbeauftragte über den „schlampigen, verdreckten“ Zustand der Truppe beschwert hatte und in der Gesellschaft eine breite Debatte darüber entstanden war, ob langhaarige Männer nicht der Inbegriff der sittlichen Verrohung seien. In der DDR wiederum erlangte der Ort Pößneck traurige Berühmtheit, weil es dort 1969 zu Zwangsmaßnahmen gegen langhaarige Jugendliche kam, die gegen ihren Willen zu örtlichen Friseuren geschafft und dort geschoren wurden. Auf beiden Seiten der Mauer galten lange Haare bei Männern als Ausdruck einer grundsätzlichen Unangepasstheit, als Widerstand gegen das herrschende System – mit den jeweils entsprechenden Folgen. Langes Männerhaar war Teil der Protestkultur. In der DDR hatte man das seit Mitte der 60er sogar schriftlich, weil man versucht hatte, mittels der sogenannten „Pilzkopf-Studie“ herauszufinden, dass Männer mit langen Haaren weniger intelligent seien als ihre Arbeiter-und-Bauern-Staat konform frisierten Geschlechtsgenossen. Tatsächlich waren sie nur durchschnittlich häufiger interessiert an westlicher Musik – was für eine politische Klasse, die fürchtete, dass „durch die Übersteigerung der Beat-Rhythmen Jugendliche zu Exzessen aufgeputscht werden“, natürlich immer noch ein Problem war.

Letztendlich ging und geht es auch bei Männerfrisuren darum, die Betreffenden auf Linie zu bringen. Sie sollen nicht ausscheren, sich der entsprechenden Norm unterwerfen, die Regeln befolgen und nicht den Anschein erwecken, aufrührerisches Gedankengut zu hegen. Zum Beispiel nicht, indem sie sich in den Augen ihrer Mitmenschen durch lange Haare feminisieren. Dabei hatten Haare noch nie ein Geschlecht und unterliegen schon seit geraumer Zeit Modetrends. Das gilt selbstverständlich auch für die Länge von Männerhaaren.

Denn die unterliegt eher einem Wandel der Zeit und des Stils und eben nicht der vorgeblichen Unehrenhaftigkeit einer natürlichen Kurzhaarfrisur.

Wenn Opa oder sonst irgendwer dem Jungen also wegen seiner Zöpfe Stress macht, gleich dagegenhalten: Wir sind hier nicht beim Militär. Jungen und Männer haben schon immer auch lange Haare getragen. Haare haben kein Geschlecht. Wir beschämen keine kleinen Jungen. Klar soweit?!

Bild: Karina Carvalho / unsplash

Kommentare zu diesem Text könnt ihr uns in unseren Netzwerken hinterlassen und dort mit insgesamt 120.000 Menschen teilen!