Eine Kolumne von Nils Pickert
Triggerwarnung: Die folgenden Inhalte behandeln Themen wie Homophobie, Konversionstherapie sowie psychische und sexualisierte Gewalt.
Wart ihr eigentlich auch so enttäuscht, als ihr damals euren Identitätsbescheid bekommen habt? Also ich hatte ja auf etwas Ausgefallenes gehofft. Deswegen war ich schon ziemlich traurig, als ich den Brief bekam, der mich als cis-hetero Durschnittsdulli auswies. Vielleicht hätte ich mich bei meiner Suche nach einer Religionsgemeinschaft, die mich zumindest schwul betet, ein bisschen mehr anstrengen sollen.
Aber leider ist daraus nichts geworden. Jetzt stehe ich also hier, ein bisschen pinkbegeisterter und streitlustiger als andere, aber trotzdem sehr gewöhnlich und sage in meiner unauffälligen Durschnitthaftigkeit:
Spaß beiseite, wir müssen ernsthaft darüber reden, warum Leute meinen, sich das Recht herausnehmen zu können, für Genderidentität und Sexualität eine moralische Rechtfertigung zu verlangen. Nehmen wir zum Beispiel Homosexualität. Die katholische Kirche spricht und schreibt ganz offen über „Das Problem der Homosexualität und deren moralische Beurteilung„. Abgesehen davon, dass der katholischen Kirche jegliche Legitimation fehlt, um für irgendjemanden irgendwelche Einschätzungen vorzunehmen, was moralisch verwerflich ist und was nicht, ist diese Vorgehensweise grundfalsch: Genderidentität und Sexualität sind weder gut noch schlecht und liegen außerhalb sinnvoller Maßstäbe für eine moralische Bewertung. Nur haben zu viele das offenbar noch nicht begriffen.
Zum Beispiel macht sich Sabine Mertens, die an Hamburger Schulen das Gendern verbieten will, auch darüber Sorgen, dass „die Evolution zu Ende ist, wenn wir jetzt alle schwul, lesbisch und trans werden sollen“. Derlei ignoranten Unfug kann man nicht einfach so stehen lassen. Hier wird sexuelle Orientierung und Identität unzulässig verwechselt bzw. vermengt und selbst Basiswissen über „die Evolution“ scheint zu fehlen. Es gilt also einiges klarzustellen:
Menschen werden nicht schwul, lesbisch oder trans, sie sind es. Sexualität und Identität sind keine Optionen zum Aussuchen und Ankreuzen. Deswegen „soll“ auch niemand so werden. Wenn überhaupt, dann sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es im Gegenteil „Konversionstherapien“ gab und gibt, die schwule Männer von ihrer Homosexualität „heilen“ sollen. Es gab und gibt „korrigierende Vergewaltigungen“ von lesbischen Frauen. Und es gab und gibt Männer der Kirche, die sich auch noch mild und wohltätig dabei vorkommen, wenn sie verzweifelten, von der Gesellschaft angefeindeten schwulen Männern mit Gebeten dabei „helfen“, nicht länger homosexuell zu sein.
Aber selbst wenn man all diese Dinge beiseite lässt: Es besteht keinerlei moralische Verpflichtung, sich fortzupflanzen. Heterosexuelle Paare, die keine Kinder bekommen wollen oder können, verhalten sich dadurch ebenso wenig moralisch verwerflich wie homosexuelle Paare. Auch die zahlenmäßige Zusammensetzung einer gesellschaftlichen Gruppe hat keine moralische Aussagekraft. Falls in hundert Jahren größtenteils nur noch unfruchtbare Menschen geboren würden, wäre Unfruchtbarkeit trotzdem kein unmoralisches Verhalten. Und selbst wenn es irgendwann signifikant mehr Frauen als Männer geben sollte, ist es nicht moralisch falsch, eine Frau zu sein.
Ähnlich wie Farben, Interessen, Gegenstände und Überzeugungen mit Geschlecht aufgeladen werden, wird eigentlich Moralfreies moralisiert. Das ist die falsche Herangehensweise. Richtig ist, allen Menschen das gleiche Maß an Rechten und Freiheiten zuzusprechen und diese anschließend nur mit Verweis auf sehr triftige, nachvollziehbare und allgemeingültige Gründe einzuschränken. Um bei dem Beispiel homosexueller Menschen zu bleiben:
Homosexuelle müssen ihre Orientierung nicht rechtfertigen sowie Recht und Freiheit nicht beanspruchen. Alle anderen müssten rechtfertigen, ihnen diese vorzuenthalten beziehungsweise wegzunehmen. Die Frage nach der „moralischen Beurteilung von Homosexualität“ ist also im Kern unmoralisch. Mehr noch: Sie ist bösartig, verlogen und falsch. Sie ist von einer Haltung geprägt, die Menschen dafür verurteilt, was sie sind, anstatt dafür, was sie womöglich Falsches tun. Diese Haltung heuchelt Besorgnis und Verständnis für die „Sündigen“ bei gleichzeitiger Ablehnung der „Sünde“. In Wahrheit interessiert sich diese Haltung nicht für Moral. Sie will nur Recht und Macht haben.
Also nein: Ich habe keinen Hetenbescheid bekommen, gegen den ich Einspruch hätte einlegen können oder der mit Blick auf die gerade aktuellen gesellschaftlichen Trends ausgestellt wurde. Dass ich bin, wie ich bin, ist nicht falsch. Wenn ich mich anderen gegenüber herablassend, diskriminierend oder gewalttätig verhalte – das ist falsch. Oder wenn ich ihnen, sagen wir mal einreden würde, ihre schiere Existenz könnte unmoralisch sein.
Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen bzw. Männern und Jungs sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich und männlich gelesenen Personen betreffen.
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Bildquelle: Lucas George Wendt (unsplash)