“Anfangen wo es anfängt”
Dylan Thomas
Der folgende Text stammt aus dem Jahreskalender Männeraufbruch. Der hat uns schon letztes Jahr komplett begeistert und versammelt Texte, die Männlichkeit anders denken und Männern neue Impulse geben. Der Herausgeber Boris von Heesen spendet an Pinkstinks. Wenn ihr den Kalender über diesen Link in seinem Shop bestellt, gehen 5 € direkt als Spende an uns.
Vor einer Weile sah ich eine Stand-up-Routine des irischen Comedians Dara Ó Briain mit dem Titel: I will always love my English child. Dazu muss man wissen, dass Dara Ó Briain mit einer Engländerin verheiratet ist und in London lebt. Zur Zeit der Aufnahme waren seine beiden Kinder noch nicht geboren und er malte sich aus, dass sie mit englischem Akzent sprechen würden, und noch schlimmer mit elegantem englischen Akzent – und damit alle Charakteristika aufweisen würden, die bei Iren in der Regel reflexartige Erinnerungen an englischen Kolonialismus und Völkermord auslösen. Er schwor: „Ich werde mit Liebe auf mein Kind schauen, ohne ein Sternchen über seinem Kopf zu sehen, das auf eine Fußnote verweist: Aber du hättest mein Land nicht für achthundert Jahre überfallen und besetzen sollen.“ Ó Briain performte in Dublin, deshalb buhte das Publikum begeistert und er setzte noch einen drauf: „Ich werde mein englisches Kind lieben, sogar wenn es bei dem Fußballmatch England gegen Irland das entscheidende Tor für die englische Mannschaft schießt.“ Mehr Buhs. „In Croke Park.“ Bei der Erwähnung des heiligen Dubliner Stadiums und Hauptsitzes der Gaelic Athletic Association drehte das Publikum völlig durch und begann „Hängt ihn! Hängt ihn!“ zu schreien. Hängt das unschuldige, ungeborene Kind.
Kollektivschuld ist eine faszinierende Sache.
Und es ist leicht, darüber zu lachen, wenn andere so offensichtlich krude Übertragungen vornehmen. Es ist aber auch verdammt befreiend. Wie gerne würde ich über meine Übertragungen lachen. Aber da ist ein Problem. Weil sie ein solches Tabu sind, dass ich bisher noch nicht einmal mit meinen engsten Freundinnen darüber geredet habe. Deshalb dachte ich, ich schreibe sie hier für eine breite Öffentlichkeit auf, und nenne sie: I will always love my male child. Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als meine Gynäkologin mir verriet, dass ich einen Jungen bekommen würde. Weil es echt schwierig war, bis auf die Toilette zu kommen, bevor ich in Tränen ausbrach. Und zwar nicht vor Freude. Mein erster Gedanke war: Dann hat sich das ja gar nicht gelohnt. Der zweite: Wie schnell kann ich nach der Geburt wieder schwanger werden? Meine Mutter tröstete mich:
„Die hat sich bestimmt geirrt.“
Seitdem habe ich bei jedem neuen Baby in meinem Umfeld die mitleidigen Blicke bemerkt, wenn es ein Junge war. Und das stolze, überlegene Lächeln der Mädchenmütter. Wie in einem viktorianischen Roman. Nur halt umgekehrt. Dort waren es die weiblichen Babys, die als waste-of-space im Uterus angesehen wurden. Und die Baby-boys, die die braven Ehefrauen und Mütter mit dem befriedigenden Gefühl erfüllten, eine Leistung vollbracht zu haben. Und erst die Väter. Deshalb versuchen die Töchter in diesen Romanen so häufig, Söhne zu sein, um auch zu den erwünschten Kindern zu gehören. Und deswegen haben sich Feministinnen genau gegen diesen boy bias gewehrt und gesagt: Wir wollen Mädchen!
Das Problem ist nur, ich bin eine Feministin. Und ich habe einen Sohn.
Als er auf die Welt kam, schickten mir Freundinnen Artikel: Wie kann ich verhindern, meinen Sohn als Macho zu erziehen. (Als könnten wir mit Erziehung auch nur halb so viel bewirken wie die Gesellschaft um uns herum, aber das ist ein anderes Thema.) Als er auf die Welt kam, schaute ich ihn mit einer Mischung aus Faszination und Befremden an, dieses fremde Wesen mit einem noch fremderen Geschlecht, und wusste nicht, wie ich Anteile von mir selbst in ihm wiedererkennen sollte. Als er auf die Welt kam, war ich sicher, dass er der Gewinner in der Geschlechterlotterie sein würde, und entsprechend unvorbereitet auf die Reaktion der Umwelt auf männliche Babys. Inzwischen weiß ich, dass Eltern mit ihren Söhnen von der ersten Sekunde an weniger sprechen und wenn sie es tun, benutzen sie eine weniger metaphernreiche Sprache. Ich weiß, dass männliche Kinder weniger in den Arm genommen werden und insgesamt weniger Zärtlichkeit erhalten als weibliche Kinder. Töchter werden dafür mehr in ihrer Autonomie und Bewegungsfähigkeit eingeschränkt und sie erhalten erschreckend viel positives Feedback für jedes Zögern und Zurückweichen: Oh, du hast Angst? Ach, dann lass das lieber. Komm zu Mama/Papa/Omi. Sei vorsichtig. Mach dich nicht schmutzig. Sei nett.
Die Publizistin Antje Schrupp hat einmal den unvergesslichen Satz gesagt: „Wir überschätzen unsere Fähigkeit, Menschen gleich zu behandeln.“ Als mein Sohn in dem Alter war, in dem er auf dem Bauch über den Boden robben konnte, saß ich in der euphemistisch benannten Krabbelgruppe und alle Mädchenmutter seufzten: Sie ist schon eine richtige kleine Zicke. Darauf die Jungsmütter: Er ist schon ein richtiger kleiner Pascha. Ich schäme mich noch heute dafür, dass ich vor Erschütterung den Mund nicht aufbekam und sogar noch ein paarmal hinging, weil mit einem Säugling alleine zu sein so hart ist, dass man dafür eine Menge Bigotterie in Kauf nimmt.
Sich zu entscheiden, ob man in dieser Welt lieber ein Junge oder ein Mädchen werden möchte, ist wie die Entscheidung zwischen Armen und Beinen. Spoiler: Wir brauchen beides, Wärme und Zärtlichkeit sowie Stärke und Zuversicht. Darüber, wie schwierig es ist, ohne Beine – sprich als Mädchen – aufzuwachsen, haben andere und klügere Menschen bereits eine Menge gedacht, gesagt und geschrieben. Welche Herausforderungen das Leben ohne Arme – also als Junge – mit sich bringt, wurde so viel weniger untersucht, dass es den meisten Jungen selbst nicht auffällt. Arme? Was sind Arme?
Ich habe übrigens auch eine Tochter. Sie wurde erst mit 5 Jahren meine Tochter, als ich begann, mit ihrem Vater Tisch und Bett und unsere Kinder zu teilen. Aber ich kannte sie schon, als sie noch ganz klein war. Als meine Tochter ein Baby war, sagten alle immer: Was für ein schönes Mädchen. Als mein Sohn ein Baby war, sagten alle ebenfalls: Was für ein schönes Mädchen. Bis sie herausfanden, dass er ein Junge war. Und dann sagte ihm jahrelang niemand mehr, außer meinem Partner und mir, dass er schön war. Wo Mädchen auf ihren Körper und ihr Aussehen reduziert werden, werden Jungen von ihrem Körper entfremdet, wenn es darum geht, ihn zu schmücken und sich daran zu erfreuen. Ja klar dürfen sie ihn nutzen, um auf Klettergerüste zu kraxeln oder sich mit seinen Extremitäten gegenseitig eines auf die Rübe zu hauen – vor allem, um sich gegenseitig zu hauen –, aber ihre Körper und damit sie werden seltener gestreichelt, geschmeichelt und geschmückt. Dieses Fehlen von positivem Feedback hatte direkte Auswirkungen auf die Feinmotorik. Mein Sohn, der mit drei Jahren Geige spielen lernte, begann deutlich mehr Dinge fallen zu lassen und sich häufiger zu stoßen als meine Tochter in demselben Alter.
An seinem ersten Tag im Kindergarten kam mich eine Freundin besuchen, die ich lange nicht gesehen hatte. Meine Tochter bezauberte sie mit selbstgemalten Bildern und der Fähigkeit, die Plots aller Fernsehserien nachzuerzählen, die sie gerne schaute. Mein vier Jahre jüngerer Sohn raste völlig aufgekratzt von dem Kontrast zwischen seiner kleinen bekannten Kita und dem großen Kindergarten voller fremder Drei- bis Sechsjähriger durch die Wohnung und bemühte sich ebenfalls um Beachtung von meiner Freundin. Da sie ein wohlerzogener Mensch war, hörte sie ihm einen halben Kleinkindsatz lang zu und wandte sich dann wieder zu meiner Tochter.
Also schleppte er Spielzeug an, um es ihr zu zeigen, indem er sich dazwischendrängte – vergeblich –, bis er schließlich meiner Tochter mit einem Schaumstoffschraubenzieher auf den Kopf klopfte. Woraufhin meine Freundin erst ihm und danach mir erklärte, dass sie Gewalt nicht mochte und vor allem keine Gewalt von Jungen gegen Mädchen. Beim Abschied erklärte sie mir, dass er ja ein sehr anstrengendes Kind sei. Und das stimmte. Die beste Möglichkeit von Kindern, Aufmerksamkeit zu erhalten, ist anstrengend zu sein. Und je weniger Aufmerksamkeit sie bekommen, desto anstrengender werden sie. Meine ehemalige Freundin war nicht die einzige, die meinen Sohn mit mehr Misstrauen behandelte, weil er ein Junge war. Und auch meine Tochter wurde umgehend in eine Schublade gesteckt. Nur dass auf ihrer draufstand: Prinzessin. Begeistert: So eine kleine Prinzessin. Oder genervt: So eine kleine Prinzessin! Da sie als große Schwester sein Rollenmodell war, liebte er ihre Spielzeughäuser, vor allem Polly-Pocket- und Little-Pet-Shop. Am Spielzeugtag der Kita erklärten ihm die anderen Kinder, dass er damit seine soziale Rolle nicht erfüllen würde – wenn auch mit anderen Worten:
Ihhh, du spielst ja mit Mädchenspielzeug!
Ich konnte beobachten, wie er die teuren kleinen Figürchen, die in Wolken oder Blumen oder Bäumen oder anderen organischen Strukturen (natürlich aus Plastik) wohnten, in dem Maße achtloser behandelte, in dem er selbst diese Achtung nicht erhielt. Zum Glück sind Kinder verblüffend resiliente Geschöpfe, so dass die beiden ihre Kindheit nicht als Ansammlung von traumatischen Gender-Episoden wahrgenommen haben, sondern viel zu beschäftigt waren, unaussprechliches Essen zu essen und Gogos und Beyblades zu sammeln.
Ich hatte mich zuerst dagegen entschieden, diesen Text I will always love my male child zu nennen, weil die Übersetzung davon ist: Ich werde mein Kind immer lieben, obwohl er ein Junge ist. Und das ist ein wenig so wie zu sagen: Ich liebe ihn, obwohl er ein Mensch ist. Oder obwohl er er ist. Natürlich ist er noch mehr als nur sein Geschlecht, aber er hat und ist eben auch sein Geschlecht. Deshalb wäre es passender zu sagen: Ich liebe ihn, weil er ein Junge ist. Nicht nur, aber eben auch deshalb. Er wurde am heißesten Tag seit metronomischen Messungen geboren. Danach lagen wir beide in meinem gelb gestrichenen Zimmer ohne Decke im Bett, weil man sogar ein Baby bei 38,5 Grad echt nicht warm halten muss. Und ich starrte ihn wie gesagt an und dachte wieder und wieder:
Das ist ein Mensch. Das ist ja ein Mensch.
Aus irgendeinem Grund – wahrscheinlich aus demselben Grund, aus dem Mädchen pinke Empathiespielsachen wie Prinzessin Lillifee und Jungen schlammfarbenes Actionspielzeug wie Plastikpistolenaufgedrängt bekommen – war ich davon ausgegangen, dass ein Junge grundlegend verschieden von einem Mädchen, ergo von mir sein würde. Dass wir keine weiteren Gemeinsamkeiten haben würden – außer der Hälfte unserer DNA – und nur in einer komplizierten Form von Morsecode kommunizieren könnten. Und hier lag ein winziges Wesen mit Regenwurmarmen und Beinchen und war einfach es selbst. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen männlichen Menschen nicht zuerst als Mann oder Junge wahrnahm. Seitdem haben sich die Kategorien Männlich und Weiblich mehr und mehr aufgelöst. Ich liebe meine Tochter nicht nur, aber auch, weil sie ein Mädchen ist und ich deshalb mit ihr bestimmte Mädchendinge machen kann wie die neuesten veganen Superfoods auszuprobieren. Aber ich weiß, dass das nicht an ihren Genitalien oder Chromosomen oder Hormonen oder woran auch immer wir inzwischen Geschlecht festmachen liegt, sondern an der Welt, in der wir uns bewegen und die Frauen erklärt, dass sie gefälligst auf ihre Figur zu achten haben und das am besten durch Ernährung tun. Aber auch wenn ich Geschlecht immer weniger beschreiben kann – was ist wirklich weiblich, was wirklich männlich, was wirklich trans? – hat es einen immensen Einfluss auf uns. Weil wir an jeder Ecke danach beurteilt und behandelt werden. Deshalb ist es so wichtig, unsere Vorstellung von Geschlechtern zu erweitern, so dass Jungen auch schön sein dürfen und Mädchen auch mutig. Und deshalb möchte ich diesen Text doch I will always love my male child nennen. Denn ich glaube, das ist es, was Jungen und Männern in unserer Gesellschaft am meisten fehlt:
Liebe.
Dieser Text von Mithu M. Sanyal stammt aus dem neuen Männeraufbruch – Jahrbuch für Männer in der Gegenwart erschienen im Menslit Verlag, 245 Seiten, 38 Beiträge, 24,95 €.