Im Herz der Verstörung

In der heutigen Pinkwatch möchten wir euch ein Buch vorstellen, dass auf den ersten Blick nicht so recht in die Reihe unserer bisherigen Besprechungen passen will, sie aber bei näherer Betrachtung um eine wichtige Facette ergänzt. Schließlich werden in ihm Themen wie Sichtbarkeit, Diskriminierung, Aktivismus, Ermächtigung und die Erfahrung von sexualisierter Gewalt thematisiert. Die Autorin Marlies Hübner legt mit „Verstörungstheorien“ ein Werk vor, mit dem ihr nicht nur ein erhellender Blick auf ein Thema gelingt, von dem alle schon einmal gehört haben und viele zu wissen glauben. Sie leistet ganz nebenbei auch eine großartige Übersetzungsarbeit. Denn das Thema ihres Buches ist Autismus und speziell die Sicht einer autistischen Frau auf sich und die Welt.

https://vimeo.com/153107834

Und weil es sich „ein bisschen es sich so anfühlt, als würden Autisten und Nichtautisten zwei verschiedene Sprachen sprechen, die nur zufällig sehr ähnlich klingen“ oder eben mit zwei unterschiedlichen „Betriebssystemen“ funktionieren, ist dies eine bemerkenswerte Leistung. Mit kristallklarer Sprache gelingt es ihr, auch die nichtautistische Leserschaft ins Herz der Verstörung einzuladen. Dorthin, wo Nichtautisten immer wieder mit Unverständnis und Wut darauf reagieren, dass jemand in ihrer Mitte mit einer nicht sichtbaren Behinderung unbeabsichtigt ihr träges Selbstverständnis stört und ihre unausgesprochenen Regeln durch seine schiere Existenz infrage stellt. Dorthin, wo sich Menschen innerhalb der Norm immer wieder berechtigt fühlen, auf nicht normgerechtes Verhalten mit Ausgrenzung und Übergriffigkeit zu reagieren.

Eine Reise an diesen Ort ist bitter nötig. Denn was macht Autismus in der Wahrnehmung der nichtautistischen Mehrheitsgesellschaft aus? Rain Man, Inselbegabung, gegen den Kopf schlagen, Streichhölzer zählen, Regierungscodes knacken, emotionale Unbedarftheit. Wahrnehmungsferne. Das ist ungefähr so, als würde man glauben, durch die Betrachtung von 10 verwaschenen Fotografien einen ganzen Kontinent verstanden zu haben, während einem nicht einmal auffällt, dass 3 von ihnen etwas ganz anderes zeigen.

Sie ist auch deshalb nötig, weil dieser Tage durch die Aktion Mensch mit ABA eine Therapieform positive Würdigung erfährt, die darauf abziehlt, autistische Kinder durch stundenlange Konditionierung für die nichtautistische Mehrheitsgesellschaft begreifbarer und einfacher in der „Handhabung“ zu machen. Mit Inklusion hat das nichts zu tun. Mit einer gesellschaftlichen Leistung, Austist*innen in ihrer ganzen Verhaltensdiversität zu integrieren, auch nicht. Stattdessen wird Funktionalität in den Vordergrund gestellt. Der Frage danach, wie weit das autistische Ich verbogen werden muss, um sich der nichtautistischen Gruppe anpassen zu können, wird viel mehr Bedeutung beigemessen als der Frage, wie die Gruppe dem autistischen Ich Teilhabe ermöglichen kann.

Dieses Problem verdient einen Aktivismus, der es öffentlich macht, und zusammen mit anderen betreibt Marlies Hübner ihn. Nicht zuletzt deshalb taucht in Rezensionen wohl immer wieder die Frage auf, wieviel von Marlies Hübner in ihrer Protagonistin Elisabeth steckt. Tatsächlich hat sich uns die Frage beim Lesen gar nicht gestellt. Der gewählte fiktionale Rahmen des Textes erlaubt es der Autorin, nicht nur ihren ureigenen Autismus zu präsentieren, sondern auch allgemeine Formen dieser angeborenen Entwicklungsstörung zu thematisieren. Und er funktioniert in alle Richtungen. Als Erfahrungsbericht und als fiktionale Prosa. Als Zustandsbeschreibung und als Aufforderung zu Aktivismus.

Von Marlies Hübner wollen wir gerne mehr hören und lesen.

Verstörungstheorien. Die Memoiren einer Autistin, gefunden in der Badewanne, erschienen im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag. 264 Seiten, 14,99 €.