Ist Cellulite eine Krankheit?

Zellulitis? Cellulite? Orangenhaut? Bei Dellen in der Haut sind sich viele beim richtigen Namen nicht ganz sicher. Unschön finden sie aber die meisten. Das war aber nicht immer so.

Cellulite ist – vereinfacht gesagt – eine oberflächlich sichtbare Veränderung des Unterhautfettgewebes, meist an Oberschenkeln und Po, manchmal auch am Bauch oder an den Oberarmen. Sie kommt besonders häufig bei Frauen vor. Und zwar bei etwa 90 Prozent, Gewicht egal. Das liegt an der Struktur des weiblichen Bindegewebes. Es besteht aus parallel bzw. gitterartig verlaufenden Kollagenfasern, die Zwischenräume sind dehnbar und können Fett und Wasser speichern. Das ist unter anderem hormonell bedingt und biologisch nützlich, zum Beispiel während einer Schwangerschaft. Bei männlichen Körpern ist das Bindegewebe dichter und kann viel weniger speichern. Also schwellen die Strukturen bei ihnen auch weniger an.

Weil Cellulite so tief im Gewebe sitzt, können Cremchen, Geräte, Sport, Behandlungen & Co. auch nicht viel dagegen ausrichten. Dennoch setzt die Beauty-Industrie weltweit Milliarden mit Anti-Cellulite-Produkten um. Allein der US-Markt umfasste 2020 gut 1,4 Milliarden Dollar. Tendenz steigend. Aber wieso gelten die Dellen in der weiblichen Haut als etwas, das um jeden Preis bekämpft und weggerollt werden muss?

Ein Blick auf nahezu jedes Rubens-Gemälde zeigt: Frauen hatten eigentlich schon immer Cellulite – nur wussten sie bis zum 20. Jahrhundert nichts davon. Erst 1873, so schrieb die Erziehungswissenschaftlerin Rossella Ghigi in ihrer Arbeit „Der weibliche Körper zwischen Wissenschaft und Schuldgefühlen“, tauchte der Begriff in einem französischen Medizinbuch auf. Doch damals bedeutete er nicht etwa wellige weibliche Haut; das Wort wurde allgemein und geschlechtsunabhängig verwendet.

Ab den 1930er Jahren veränderte sich das laut Rossella Ghigi allerdings. In einer Frauenzeitschrift mit dem Titel „Your Beauty“ wurde Cellulite 1933 als „eine Mischung aus Wassereinlagerungen, Rückständen und Fett, gegen die man schlecht gewappnet ist“ bezeichnet. Auch die französischen Zeitschriften „Votre Beauté“ und „Marie-Claire“ begannen, das Wort für Dellen und Wellen an Frauenkörpern zu benutzen. Cellulite wurde zu einem ästhetischen, moralischen und vor allem weiblichen Problem: Sie war ein sichtbares, hässliches Zeichen der Vernachlässigung des weiblichen Körpers. Selbst schuld, Madame! In den 1960er Jahren fand Cellulite ihren Weg in Magazine wie „Vogue“ und damit immer weiter in die Gesellschaft.

Die Erfolgsstory dieses erfundenen Problems hat – grob gesagt – mit zwei Dingen zu tun: Patriarchale Kontrolle über den weiblichen Körper und Kapitalismus.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts erkämpften sich Frauen zunehmend Freiheiten. Sie durften in immer mehr Ländern wählen, ergriffen Berufe, wurden nach und nach gesellschaftlich sichtbarer, finanziell unabhängiger, sexuell befreiter. Das gefährdete auf Dauer natürlich die patriarchale Ordnung und Hierarchie, in der Frauen als Männern untergeordnet gelten. Laut der Arbeit von Rossella Ghigi wurde besonders zwischen den beiden Weltkriegen „Verfall und Vergiftung des weiblichen Körpers“ mit dem Leben in der Großstadt und Berufstätigkeit von Frauen in Verbindung gebracht. Überzogene Schönheitsnormen und unerfüllbare Ansprüche eigneten (und eignen!) sich prima, um sie weiterhin klein und beschäftigt zu halten. Denn wer nicht dem konstruierten Ideal entspricht, soll sich weniger wertvoll fühlen und sich des eigenen Körpers schämen, sich nicht gern und unbeschwert zeigen, weniger Sex haben. Die Reglementierung des weiblichen Körpers – und damit der weiblichen Sexualität – hat schon immer der Kontrolle von Frauen gedient.

Außerdem sollen Frauen möglichst viel Zeit und Geld in Schönheitspflege und entsprechende Produkte investieren. Zwischen cremen und schämen lassen sich nun mal schlecht Revolutionen anzetteln. Aber Hauptsache, der Rubel rollt. Vermeintlich schlechte Haut – gut fürs Geschäft! Zweitrangig, dass hier lediglich ein erfundener Makel mit immer neuen, kostspieligen Mittelchen bekämpft werden soll.

Um es deshalb klar zu sagen: Cellulite an sich ist ausdrücklich keine Krankheit, kein gesundheitliches Problem, kein persönliches Versagen – sondern pure Biologie und damit ebenso natürlich wie unvermeidbar. Und weit verbreitet. Beispiel gefällig? Sänger*in Demi Lovato hat das Thema auf Instagram aufgegriffen und 2019 ein Bikinifoto gepostet. „Das ist meine größte Angst. Ein unbearbeitetes Foto von mir im Bikini“, schrieb Lovato. Und weiter: „Es ist Cellulite! Ich bin es einfach sooooo leid, mich für meinen Körper zu schämen.“ Das Bild bekam fast zehn Millionen Likes.

Screenshot Instagram – 10.8.2021
Screenshot Instagram – 10.8.2021

Und auch Model Amber Rose sagte 2016 in einem Interview: „Es ist sehr normal, Cellulite und schlaffe Brüste zu haben – das gehört einfach zum Menschsein. Akzeptiert die Haut, in der ihr steckt.“ Also, alles Quatsch mit der Orangenhaut. Zeigt her eure Beine! Übrigens: Da die Endung -itis medizinisch für eine Entzündung steht (Appendizitis, Meningitis usw.) lautet der richtige Begriff Cellulite. Oder halt einfach: Haut.

Bildquelle: Chris Lawton/Unsplash

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Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen bzw. Männern und Jungs sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich und männlich gelesenen Personen betreffen. Wenn wir die Adjektive „weiblich” oder „männlich” benutzen, beziehen wir uns ebenfalls auf die stereotypische gesellschaftliche Verwendung der Begriffe.