Damals, in den Jahren v. C. (vor Corona), als ich zu Vorträgen, Schulungen und Fortbildungen tatsächlich noch irgendwo hin gereist bin, um physisch präsent zu sein, habe ich diese häufig mit einer Selbstbeschreibung begonnen. Einerseits um das Eis zu brechen und mich vorzustellen, andererseits um insbesondere den anwesenden Männern zu verdeutlichen, dass Geschlecht nur eine Kategorie von vielen ist, über die Gemeinsamkeiten oder Unterschiede hergestellt werden.
Ich bin also ein mittelalter, weißer, gebürtiger Ostberliner Mann in einer Vierteljahrhundert Heterolangzeitbeziehung mit vier Kindern, für die ich in der Hauptverantwortung bin. Ich esse kein Fleisch und kein Zucker, ich verstehe nichts von Autos, mich langweilt alles an Fußball, dafür mag ich Billard und Carrom. Ich liebe es, mich um kleine Kinder zu kümmern, ich koche gern, ich bin vasektomiert, ich raste vor Freude aus, wenn ich Kirschblüten sehe. Ich bin ein wetterfühliger, antialkoholischer, feministischer Atheist, der freiberuflich als Autor/Journalist arbeitet und nicht gerne führt: Wer noch?
Selbstverständlich meldet sich nie jemand auf diese Frage – weder Männer noch Frauen. Wieso sollte irgendjemand diese Ansammlung von Spezifikationen und Marotten, die sich bei mir über die Jahre herausgebildet und angesammelt haben, auch nur mehrheitlich mit mir teilen? Dafür bin ich ja schließlich ein Individuum. Trotzdem wird oft versucht, über stereotype Geschlechtszuschreibungen Gemeinsamkeiten von mir mit „allen anderen Männern“™ zu benennen oder zu erzeugen. Über Fleischkonsum, Technikaffinität und Fußballbegeisterung. Über das Desinteresse an Kümmern und Kindern, über das Begehren für Frauen, über meine genitale Grundausstattung. Nichts davon definiert zwingend (mein) Mannsein. Aber alles davon wird dazu herangezogen, mich einzuordnen, zu kategorisieren, mir Fähigkeiten und Interessen zu- oder abzusprechen. Ich muss Autos fahren wollen und Fleisch grillen können. Ich darf mich nicht für bunte Wandfarben, Kochrezepte, Windelgrößen und Zärtlichkeit interessieren. Ich muss als Mann für „Männerthemen“ ansprechbar sein und für „Frauenthemen“ demonstrativ Desinteresse zeigen. Wenn ich das nicht tue, löse ich Irritation aus. Wenn ich also nicht darauf eingehe, dass ein Elektriker im Beisein meiner Lebenskomplizin ausschließlich mich anspricht, obwohl sie ihn beauftragt hat, ist die Verwirrung groß. Und zwar nicht nur bei uns.
Es ist wie ein Theaterstück, das man aufzuführen hat, aber nicht wirklich mitspielen will.
Dauerbrüller bei uns, ich organisiere, stelle Fragen, spreche den HW an, die gucken durch mich durch und sprechen meinen Mann an 🙄
— Gabriele Schobeß 💚 (@mandarine0711) May 14, 2021
Eine Geschlechterschmierenkomödie, in der die erwarteten Rollenbilder vertauscht oder einfach divers verteilt sind.
Als weibliche Technikerin mit Azubi unterwegs sein, ist auch funny. Dann wenn der Kunde die Fragen dem Azubi stellt. 🙈😁
— Dele (@Deledaheim) May 14, 2021
In der Kompetenzen, Interesse und Expertise so starr an Stereotype gekoppelt sind, dass es den Anschein hat, als würde man in der jeweiligen Situation nicht einmal mehr die gleiche Sprache sprechen. Sicher, etwaige Missverständnisse können oft auch lustig und unverkrampft abgeräumt werden. Eine mir fremde Person muss nicht wissen, wer ich bin und was mich ausmacht und mich dementsprechend behandeln. Nur funktioniert diese Schlussfolgerung eben auch andersherum. Wenn Fleischessen, Technikwissen und Fußballbegeisterung kein Geschlecht haben, wieso muss dann eine mir fremde Person meinen, dass mich das zu interessieren hat. Das Ganze ist nur so lange eine „witzige Randerscheinung, über die man drüberstehen sollte“ (ehrlich gesagt nicht mal dann), bis es gezielt eingesetzt wird, um Einzelpersonen zu schaden. Und das geschieht aktuell vor allem bei Frauen. Bei Annalena Baerbock zum Beispiel, der die Befähigung zur Kanzlerinnenschaft abgesprochen wird, weil sie Mutter von Kindern unter 10 Jahren ist. So als hätte man männlichen Politikern jemals in gleicher Weise die Betreuungsfrage gestellt.
Was da politisch motiviert mit Baerbock geschieht, ist nichts anderes als die Hochskalierung der „Kann ich mal Ihren Mann sprechen?!“-Frage: „Das ist nichts für Sie, das ist nicht Ihr Bereich, es geht um Macht und Sie sind Frau und Mutter – erklären Sie uns mal, wie Sie sich DAS vorgestellt haben! Was macht Ihr Mann eigentlich?“ Und Baerbock muss erklären, was eigentlich nicht erklärungsbedürftig sein sollte und übergriffig formuliert ist – sowohl gegen sie als auch gegen ihren Mann.
Also nein: Für Autoreperaturen, die meine Lebenskomplizin veranlasst hat, bin ich nicht zu sprechen. Ich hab keine Ahnung davon. Genauso wie von Teamführung, Fußballtrainerfragen und Rindfleischanbratereien. Ich bin dann wieder bei Kindergeschichten, Maximum Breaks und Hummus-Rezepten dabei. Denn all diese Dinge haben kein Geschlecht.
Bildquelle: Unsplash
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