Ist Mädchen soziales Verhalten in die Wiege gelegt?

Manchmal bekommen wir Fragen zugemailt, deren Antwort vielleicht auch euch brennend interessieren könnte. Zum Beispiel schreibt Konrad:

„Finden Sie nicht auch, dass Männer und Frauen nun mal nicht gleich sind (Ich kann übrigens wirklich keine Kinder bekommen)? Wussten Sie, dass Kleinkindern in einer Studie technische Produkte und Gesichter gezeigt wurden? Mädchen reagierten tendenziell stärker auf Gesichter, Jungs auf Technik. Ist das auch die böse Wirtschaft die Rollen aufzwingt? Eine Rückmeldung und eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema fänd ich spannend….“

Und hier meine Antwort:

Lieber Konrad,

die Studie von der Sie sprechen, ist aus den 80er Jahren. Sie stammt von Simon Baron Cohen, Autismusforscher und Professor aus Cambridge. Er ist der Cousin von Sacha Baron Cohen, dem Komiker, dessen Figuren „Ali G.“, „Brüno“ oder „Borat“ weltbekannt sind.

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Das muss ja nicht heißen, dass Simon kein wissenschaftliches Talent hat, nur weil Sacha so ein Spaßvogel ist. Aber die Studien, die Simon damals durchführte, waren leider tatsächlich ziemlich großer Quatsch. Grundlage seiner Studien war die Annahme, dass Jungen aufgrund der höheren pränatalen Testosterondosis, die sie im Uterus erhalten, eher an Technik und Abstraktion interessiert sind als an Gefühl und Menschenkenntnis. Er testete an Säuglingen, die maximal einen Tag alt waren und somit noch nicht sozial geprägt worden sein konnten. Tatsächlich schauten in seiner Studie ein ganz paar Jungen mehr auf Mobiles als auf die Gesichter, die ihnen gezeigt wurden. Umgekehrt schauten ein Fünftel der Mädchen länger auf Gesichter als auf Mobiles! Tataaa? Nein, leider nicht. In zahlreichen Studien wurde später belegt, dass die Studie hoch unprofessionell durchgeführt wurde. Weder wurde die Erwartungshaltung der teilnehmenden Eltern getestet, die ihre Kinder auf dem Schoß hatten, noch wurden verschiedene Versuchsleiter*innen eingesetzt, um die Voreinstellung der Versuchsleiterin zu überprüfen. Kein Mensch, auch keine Versuchsleiterin, kann einhundertzweimal genau gleich schauen. Säuglinge haben eine kurze Aufmerksamkeitsspanne. Die Objekte wurden nacheinander gezeigt, nicht gleichzeitig, und das auch noch in unterschiedlicher Reihenfolge. Eine professionelle Studie hätte die Eltern gebeten, ihre Kinder geschlechtsneutral zu kleiden, um die Versuchsleiterin nicht zu beeinflussen. Denn unsere Vorurteile Geschlechtern gegenüber sind oft unbewusst. Ein simples Augen aufreißen könnte ein Kind das Gesicht bereits spannender finden lassen und dieses Animieren muss der Leiterin nicht einmal bewusst sein.

Obwohl die Studie von anderen Wissenschaftlerinnen einige Jahre später unter Wahrung dieser Vorkehrungen wiederholt wurde und keine Unterschiede bei den frisch geborenen Säuglingen getestet wurde, wird bis heute die Studie von Simon Baron Cohen immer wieder genannt, rezipiert und für bahnbrechend gehalten. Warum? Weil sie, wie so oft, nicht falsch sein KANN. Es muss doch einen Grund haben, warum wir so verschieden sind, oder nicht? Und der kann doch nicht sozial begründet sein?

Lieber Konrad: Noch viel mehr Fakten zur Geschlechterforschung finden Sie in unserem Buch „Pink  für Alle“, das Sie hier bestellen können. Warum z.B. zwar manche Primaten eher mit Autos als mit Puppen spielen, das aber nichts mit ihrem Testosteron zu tun hat sondern erlerntem Verhalten. Unser Verhalten und unsere Art zusammen zu leben verändert sich ständig, zum Glück, wir passen uns an. Das nennt man Evolution.

Es gibt übrigens Primatenstämme (z.B. Macaca sylvanus, Gibraltar), bei denen die Männchen die Jungen aufziehen. Gebärmutter haben, Kinder kriegen können und gute Eltern zu sein ist nicht notwendig aneinander gekoppelt. Aber wie gesagt: Ausführlich lesen Sie das im Buch. Denn „mal kurz“ auf solche Fragen zu antworten endet meist in dem, was populärwissenschaftliche Magazine machen: Fakten so aufzubereiten, dass sie uns schnell begeistern. Und besteistern tut meist, was einen in seiner geübten Denkweise bestätigt.

Danke für Ihr Interesse!

Besten Gruß,

Stevie Schmiedel