Klischeefrei erzählen

In so eine privilegierte Situation muss man erst einmal kommen: Ich habe mir eine Geschichte für Kinder ausgedacht und aufgeschrieben, das Lektorat ist abgeschlossen und nun bin ich wirklich und wahrhaftig in der wunderbaren Welt der Illustrationsvorschläge. Das bedeutet, dass ich mir die Ideen und Entwürfe von einer sehr tollen Illustratorin anschauen darf und mein einziges Problem darin besteht, mich zu entscheiden, welcher Vorschlag am großartigsten ist. Wobei – ehrlich gesagt, gibt es da noch ein Problem. Ein ziemlich großes sogar. Kinderbücher wie David und sein rosa Pony (nach dem Theaterstück von Blanca Fernandez)…

… oder eben dieses Neue zu schreiben, stellt für mich einen Seitenwechsel dar. Anstatt wie so oft diese Bücher zu lesen oder vielmehr vorzulesen und mich dabei über diskriminierende und stereotype Darstellungen zu ärgern oder mich über diskriminierungsfreie, diverse Beschreibungen zu freuen, muss ich letztere dann selber liefern. Man sollte meinen, dass das total einfach sein müsste, wo ich mich doch schon so lange damit beschäftige, Kinderbücher unter diesen Gesichtspunkten auszusuchen und zu bewerten. Das ist es aber nicht. Diskriminierung ist kein eindimensionales Phänomen, mit dem Menschen marginalisiert werden, sondern ein vielschichtiges, komplexes Problem, dem man niemals dadurch beikommt, dass man sich selbst für ultimativ qualifiziert hält oder die Diskriminierungsproblematik für endgültig beendet erklärt. Darüber hinaus ist Mehrfachdiskriminierung mehr als die Summe ihrer Teile. Eine schwarze Frau wird nicht nur als Frau und als schwarze Person diskriminiert, sondern obendrein auch noch ganz spezifisch als schwarze Frau. Und weil Diskriminierung eine der grundlegenden Praxen zur Funktionsweise von Gesellschaft sind, ist sie auch eine grundlegende Praxis in unserem Erzählen. In meinem Erzählen. Während es mir also möglicherweise gelingt, geschlechtergerechte Geschichten zu schreiben und mir Figuren auszudenken, die unter diesem Aspekt gleichberechtigt sind, übersehe ich andere und scheitere an meinen Ansprüchen. Indem ich mir beispielsweise einen kleinen dicken Jungen ausdenke, der in meiner Geschichte nur den Zweck hat, die üblichen Klischees über kleine dicke Jungen zu erfüllen, um die Story voranzubringen oder „lustiger“ zu machen. Oder ich exotisiere eine Person mit Migrationshintergrund, um anzuzeigen, wie superdivers ich erzählen kann und wie sehr ich mir bewusst bin, dass nicht immer nur weiße Menschen in Kinderbüchern stattfinden sollten. Oder ich benutze ableistische Formulierungen wie „Wahnsinn“, „dumm“ oder „an den Rollstuhl gefesselt“, …

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… weil ich mein ganzes Leben lang diese Formulierungen wie selbstverständlich benutzt habe und längst nicht damit fertig bin, sie zu entlernen.

Aber reden Menschen nicht genau so? Wirkt eine Geschichte, die sehr viel diskriminierungsfreier erzählt als es die Gegenwart gewöhnlich tut, nicht irgendwie steril und weltfremd? Wie kann man überhaupt frei erzählen, wenn man von so vielen Fallstricken und Kopfkinobefürchtungen umzingelt ist? Und läuft man dabei nicht Gefahr, das eigentliche Erzählen dem bewussten Signalisieren einer möglichst diskriminierungsfreien Sprache unterzuordnen? Sprich, man flext mit seinen angeblich derben Intersektionalitätsskills, hat aber vor lauter Bemühungen darum nicht mehr wirklich viel oder gar Interessantes zu erzählen.
Nun, man kann und sollte es zumindest versuchen. In der Literatur erwacht erst ganz allmählich das Bewusstsein, dass nie wirklich frei erzählt wurde, sondern sich Freiheiten viel zu lange stets auf Kosten anderer herausgenommen wurden. Zum Beispiel, indem sich vorrangig männliche Autoren in ihren Geschichten und in ihrem Leben der Care-Arbeit entledigen, sie verunsichtbaren, an Frauen delegieren und ganz allgemein einfach so tun, als ginge sie das überhaupt nichts an. Oder indem weiße Autor*innen People of Color immer nur als die Anderen beschreiben, die „zu Gast“ oder „auch hier“ sind. Aber langsam bewegt sich etwas. Auf Plattformen wie 54books bemühen sich Autor*innen und Literaturkritiker*innen um sehr viel differenziertere und diskriminierungssensiblere Blicke auf die Literatur, das Erzählen und die Machtverhältnisse, die beides ermöglichen. Und beim Sensitivity Reading bieten Expert*innen eine spezielle Form des Lektorats an, das ganz genau hinschaut, ob man einer Figur eine klischeehafte Behinderung oder einen stereotypen Migrationshintergrund andichtet oder ob man authentisch über Menschen erzählt.

Auch wenn es einige (noch) für übertrieben oder gar einen „semantischen Putzfimmel“ halten: Am Ende geht es darum, besser zu erzählen. Es geht darum, nicht zum viermillionsten Mal Klischees über Autismus aufzuwärmen oder über schwule Männer in affektierten und oberflächlichen Stereotypen zu schreiben, sondern sich mehr Mühe zu machen. Damit Kinder aus Asien nicht „immer gut in Mathe sind“ und „alle gleich aussehen“. Damit Frauen in Büchern nicht länger „viel essen, aber niemals zunehmen“.

Das klappt ganz sicher nicht immer. Letztendlich werde ich mich nie ganz der Versuchung bzw. des Automatismus entledigen können, klischeehaft, stereotyp und diskriminierend zu schreiben. Aber ich hab Lust, es zu versuchen. Mal sehen, wie sich das dann liest.

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Bildquelle: Ben White/Unsplash