Kopfbedeckung

 

Meine Große ist die coolste kleine Philosophin, die ich kenne.

„Ich finde es doof, dass so viele Musliminnen Kopftuch tragen“, sagte ihr Großvater zu ihr bei einem gemeinsamen Spaziergang durch die lokale Einkaufsstraße. Ihre kleinen Augen wurden schmal. „Jetzt überleg‘ genau, was du sagst, Opi.“ Der Opa dachte nach, was diese strenge Miene bedeuten könnte. Dann korrigierte er: „Ich finde es doof, wenn Frauen Kopftuch tragen müssen.“ „Aha“, erwiderte sie, und ihre Augen entspannten sich gnädig.

In der Schule meiner Tochter sind viele Schüler*innen aus muslimischen Familien. Eine Mitschülerin wird ab 14 Kopftuch tragen, „das ist so bei uns“, sagt sie. Aber sie trägt schon jetzt gerne Kopftuch, weil sie sich damit beschützt fühlt. Meine Tochter kann das gut verstehen. „Das hat ja auch etwas ganz Kuscheliges und Eingetütetes“, sagt sie, und probiert es selber aus, zuhause vor dem Spiegel. Wenn sie bei Schneeregen zur Schule fährt ist Kopfbedeckung leider auf einmal „viel zu heiß“.

In Zeiten von Pegida und insbesondere nach dem Paris-Attentat wird mancherorts wieder eine klare Trennung von Staat und Religion gefordert, oder genauer und einseitiger, das Kopftuch-Verbot in Schulen. Ich möchte heute der Frage nachgehen, ob das eine unbedingt etwas mit dem anderen zu tun hat, ohne eine endgültige Meinung des Pinkstinks-Teams dazu vorzustellen. Erstens, weil es die nicht gibt, wir müssen zu anderen Inhalten diskutieren und fundierte, feste Meinungen bilden. Zweitens, weil es trotzdem ein Thema ist, dass sexistische und rassistische Diskriminierungen beinhalten kann. Für die „Kopftuch“-Diskussion möchte ich also folgende Gedanken mit auf den Weg geben.

Es ist das eine, zu diskutieren, ob man generell alle religiösen Symbole – sei es an Schulwänden, an Lehrenden oder Schüler*innen, obwohl alle drei Möglichkeiten auch gesondert diskutiert werden könnten – abschaffen sollte. Es ist ein anderes, das plakativ zu einer Zeit zu tun, an der wir einen steigenden Fremdenhass in Deutschland verzeichnen, oder, um genau zu sein, eine übersteigerte Wut und Angst vor „dem Islam“. Eine solche Diskussion macht eine Gleichung auf: Wenn wir Lehrerinnen mit Kopftüchern in Schulen erlauben, müssen wir uns nicht wundern, wenn wir hier radikale Islamisten „züchten“. So wird versucht, eine Angst vor „Überfremdung“ und Terror zu nutzen, um gegen „den“ Islam zu hetzen. Nochmal: Die Frage, ob Kreuz, Kippa oder Kopftücher generell aus Schulen verschwinden sollen, ist eine herausfordernde. Die Motivation für ein „Ja“ zu dieser Frage kann vielfältig sein.

Selten sind es männliche, jüdische Lehrer, die dieses Religionsverbot treffen würde. Auch das kleine Kreuz an der Kette unter der Kleidung produziert selten den großen Aufschrei. Oft ist der wirklich große Anstoß das Kopftuch im Klassenraum als gelesenes Zeichen der weiblichen Unterwerfung. Es ist also weniger die Empörung über gelebte Religion als eine bestimmte Religion.

Eine gute Freundin von mir hat das Kopftuch an- und nie wieder abgelegt, nachdem ihr sehr geliebter Vater plötzlich und sehr jung verstarb. Sie hat sich dadurch nicht verändert, ist genau dieselbe witzige, schlaue, feministische und sehr wilde Freundin geblieben, die ich so lieb habe. Sie hat nur das Gefühl, ihm so näher zu sein. Nach dem plötzlichen Unfalltod meiner Mutter habe ich nach Jahrzehnten wieder eine Kirche betreten und sehr viel Trost dort gefunden. Manch ein*e Freund*in dachte, ich hätte jetzt komplett die Schrauben verloren. Mich fragte aber niemand, wie genau mein Bezug zu dieser mysteriösen christichen Gottheit denn aussähe. Es schien, als hätten alle ein klares Bild von dem, was in meinem Kopf abging. Und eine klare Wertung dessen.

Meine sehr eigene „Nutzung“ des kirchlichen Raumes ist sicher eine andere als die einer Baden-Württemberger*in,  die die Bibel anführt, um gegen den geplanten „Gender-Wahn“ an Schulen zu protestieren. Die Kopftuch-Wahl meiner Freundin ist sicher eine andere als die jener, die 2002 mit brennendem Kopftuch zurück in ihre Schule geprügelt wurden und dort bei lebendigen Leib verbrannten. In wie weit wir alle freiwillig kulturellen oder religiösen (Teil-)Identitäten nachgehen, ist relativ: Wir tun alles im Rahmen der Diskurse, in die wir eingebettet sind. Die Frage ist, wie drastisch sie uns einengen oder wie groß der innere und äußere Zwang ist, sie zu leben.

Trotzdem kann ich Leute gut verstehen, die sagen, dass alle Religionen abgeschafft gehören, vor allem aus dem öffentlichen Raum. Mir persönlich reichen schon die sehr häufigen Emails von fundamentalistischen Christen, dass ich die Gesellschaft bitte nicht mit meiner Existenz und meinem Gender-Wahn behelligen solle, um über ein komplettes Religions-Verbot an Schulen nachzudenken. Ein Baden-Württembergischer Protest gegen aktuelle Genderforschung an Schulen, vielleicht genährt durch einen öffentlichen, sehr konservativen Katholizismus, ist das eine. Die Vorstellung, ein paar Kopftuchträgerinnen würden den radikalen Islam und damit terroristische Anschläge befeuern, das andere.

Kopftücher an sich sind so wenig unser reales Problem, wie es Highheels sind. Nur weil hochhackige Schuhe orthopädisch wahnsinnige Kleidungsstücke sind, die sich westliche Frauen anziehen mit der Überzeugung, dies freiwillig und gerne zu tun, würden wir nie auf die Idee kommen, ein Highheel-Verbot für Lehrer*innen in Schulen zu fordern aus Angst, unseren Kindern könnte ein falsches Vorbild präsentiert werden. Malala trägt Kopftuch und Conchita Wurst sehr hohe Schuhe. Beide sehe ich als geniale Vorbilder für meine Töchter.

Man könnte das Gespräch meiner Tochter und ihres Großvaters auch umschreiben:

„Ich finde es doof, dass so viele Frauen geschminkt sind.“ „Opi?“ „Okay. Ich finde es doof, wenn Frauen sich schminken müssen.“ Mit genug Bildung und Möglichkeiten, sich zu entfalten, sollte es jedem Menschen offen stehen, seine eigenen Grenzen in den kulturellen Gerüsten seines Umfeldes zu definieren. Die Frau, die sich mal gerne schminkt, mal nicht. Die Frau, die selbst entscheidet, ob sie gerne Kopftuch trägt.

Mich interessiert es nicht mal, ob überzogene Vorschriften Radikalisierungen eher vorantreiben oder verhindern würden, auch wenn ich zur ersten Antwort tendiere. Die Frage ist, was für ein Religionsverständnis einer solchen Vorschrift zugrunde liegt. Wo fängt Religion an: Sind Rasta(fari)locken dann auch verboten? Was ist mit buddhistischen Gebetsketten als Modeaccessoire? Vereinszugehörigkeiten? Manch ein Fußballfan sieht seinen Verein als Kirche an. Und was ist eigentlich mit Markennamen? Sollten Lehrer*innen am besten im einheitlichen Blaumann kommen? Obwohl – die könnten eine kommunistische Konnotation tragen. Auch gefährlich, oder nicht?

Einer Muslimin mit Kopftuch automatisch vorzuwerfen, sie sei nicht emanzipiert, ist genauso erniedrigend, wie eine Frau in Highheels als „Modeopfer“ abzuwerten. Wir müssen aufpassen, dass wir ein Kopftuch-Verbot nicht aus der falschen Motivation verhängen: Aus der klaren Vorstellung der Trägerin Unterwerfung unter das Patriarchat und der Angst, ihr Vorleben im Klassenraum könne die Kinder mit dieser Unterwürfigkeit infiltrieren.

Die Frage, ob sichtliche Religionszugehörigkeit im Unterricht erlaubt sein darf, ist eine spannende. Ob sie jetzt gerade dringlich ist, eine andere. Konzentrieren wir uns doch lieber auf die wirklichen Herausforderungen: Die Ermöglichung von Bildung und vernünftigen Wohlstand für alle, so dass Selbstreflektion und freie Entfaltung möglich sind. Das kostet Geld und eine soziale Politik. Mit schwarz-weiß-Malerei und BILD-Sprache ist uns nicht geholfen.