Den Ausdruck „Cancel-Culture“ hören wir inzwischen überall. Aber was bedeutet er und was steckt wirklich hinter der „Man darf ja gar nichts mehr sagen!“-Empörung?
Schenkelklopfer, höhöhö und uiuiui: Wer in den 1980ern und 1990ern aufgewachsen ist, hat von Onkel Günther & Co fast täglich unerträgliche Witze und Sprüche gehört, in denen marginalisierte Gruppen diskriminiert und beleidigt wurden. Ein Glück, dass das wenigstens ein kleines bisschen besser geworden ist.
Das sehen aber nicht alle so. Die Moderatorin Sarah Kuttner zum Beispiel, ihr erinnert euch vielleicht noch, hatte sich in einem Podcast darüber beschwert, dass man ja das N-Wort gar nicht mehr sagen dürfe – und es dabei mehrfach gesagt. Ihr Argument: Es darf nicht sein, dass man nicht mehr alles sagen darf und wer das N-Wort liest oder sagt, wisse ja eh, was gemeint ist.
Ihre rassistischen Äußerungen sorgten für viele wütende, verletzte und verständnislose Reaktionen. Auch bei uns – wir empfinden solche Aussagen als No-Go.
Denn natürlich ist es anstrengend, immer und immer wieder aufs Neue erklären zu müssen, wieso und wie bestimmte Begriffe Menschen diskriminieren, abwerten und kränken. Das bezieht sich nicht nur auf rassistische Wörter.
Und dass immer mehr Leute offen wegen solcher Dinge wütend werden, hat nichts mit der Zartheit von Schneeflöckchen zu tun – „Snowflakes”, wie englischsprachige Populist*innen aus ihrer Sicht „zu sensible” Menschen gerne abwerten – sondern damit, dass das Bewusstsein für Diskriminierung wächst. Menschen wollen so was nicht mehr kommentarlos hinnehmen. Müssen sie auch nicht, Social Media sei Dan.
Was heißt Cancel-Culture?
Der Begriff „Cancel-Culture” – auf Deutsch in etwa „Boykott-Kultur” – steht, vereinfacht gesagt, für einen Vorgang, bei dem ein Unternehmen oder eine bekannte Person etwas Inakzeptables tut oder sagt und dafür öffentlich zur Rechenschaft gezogen wird. Zum Beispiel: „XYZ hat dies getan oder das gesagt, geht nicht zur Show!“
Das war und ist ein wichtiger Teil von Bewegungen wie #MeToo und #BlackLivesMatter, die vor allem in sozialen Netzwerken gewachsen sind. Mit dem Hashtag #CancelCulture versuchten sich marginalisierten Gruppen in den sozialen Medien Gehör zu verschaffen und auf problematische Aussagen und Verhaltensweisen hinzuweisen. Die Wurzeln reichen bis in die US-Bürgerrechtsbewegung in den 1950er und 60er Jahren mit politischen Boykotten. Wie etwa der 1955 durch Claudette Colvin und Rosa Parks ausgelöste Bus-Boykott von Montgomery, ein 381 Tage dauernder Protest gegen die Politik der Segregation und Rassentrennung.
Ein Boykott ist ein Weg anzuerkennen, „dass man nicht die Macht hat, strukturelle Ungleichheit zu beeinflussen“, sagt die Sprachwissenschaftlerin Dr. Anne Harper Charity Hudley. Als Einzelperson könne man durch einen Boykott oder Aufruf zum Canceln trotzdem Einfluss ausüben: „Wenn man nicht die Möglichkeit hat, etwas mit politischen Mitteln zu verändern, kann man wenigstens die Teilnahme verweigern.”
Hinter Cancel-Culture stecken also zwei Dinge: erstens Empowerment und zweitens die Forderung nach Rechenschaftspflicht. Im Grunde geht es darum, dass Leute nicht mehr mit jedem Mist davonkommen und dass weniger einflussreiche und privilegierte Menschen Gehör finden.
Das kann langsam und stetig für soziale Veränderungen sorgen und ungleiche Machtverhältnisse etwas gerader rücken. Prima! Oder?
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Es kommt aber auch vor, dass es bei solchen Hinweisen und Aufrufen in sozialen Netzwerken nicht um das Thema an sich geht. Sondern darum, die Reichweite zu steigern und das eigene Profil zu schärfen.
Das hängt damit zusammen, dass emotionale Themen für starke Reaktionen – und viele Kommentare, Shares und Likes – sorgen. Aber auch damit, wie eine Person online wahrgenommen werden möchte: „Guckt, welche Werte ich vertrete!“ Das nennt sich performativ, weil es einer Theater-Performance gleicht und für das Publikum inszeniert wird.
Absurd komisch wird es, wenn es zu einer Cancel-Culture der Cancel-Culture kommt. Bayerns Gender-Verbots-Ministerpräsident Markus Söder bediente sich der Cancel-Culture Methodik und disste doch gegen sie. Der Shitstorm, auch aus den eigenen Reihen, der dann folgte, offenbarte das populistische Ansinnen und war wohlverdient.
Soziale Netzwerke sorgen dafür, dass sich Themen rasend schnell sehr weit verbreiten. Dann springen immer mehr Leute auf den Zug auf und posten etwas dazu. Und schon motzen sehr viele Menschen in Feeds und Kommentarspalten drauflos, beschimpfen völlig Fremde. Das kann ziemlich hässlich werden und auch mal (nicht-prominente) Leute treffen oder Menschen, die das nicht verdient haben.
Einige behaupten, dass dadurch öffentliche Diskussionen verzerrt und verhindert werden. Und zwar deshalb, weil Menschen aus Angst vor den Reaktionen lieber schweigen und darum kein richtiger Austausch mehr stattfindet. Das würde die Spaltung der Gesellschaft vertiefen.
Natürlich sollten wir uns alle – ob in sozialen Netzwerken oder anderswo – offen begegnen, nachfragen, nicht reflexhaft abkanzeln, nur weil da eine Person eine andere Meinung vertritt. Nur so kann echtes Verständnis entstehen.
Die entscheidende Dreifach-Preisfrage lautet aber: Wer schweigt wirklich, worüber soll sich ausgetauscht werden und was heißt überhaupt Spaltung der Gesellschaft?
Wer cancelt hier wen?
Die Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling beispielsweise wird wegen ihrer trans*feindlichen Äußerungen heftig kritisiert. Sie ist eine der bekanntesten Personen im Zentrum der Debatte um Cancel-Culture. Trotzdem hat ihre Firma Pottermore Publishing den Profit innerhalb eines Jahres um 150 Prozent gesteigert. Und sie verbreitet weiter diskriminierende Dinge über trans* Menschen. Kurz gesagt: Weder schweigt sie noch wurde ihre Karriere zerstört. So gesehen „darf“ und kann sie theoretisch immer noch alles sagen.
Oder Sarah Kuttner. Rückblickend? Ein „Ausrutscher”. Nach dem Shitstorm ging es für die deutsche Fernsehmoderatorin und Autorin erfolgreich weiter.
Es stimmt, dass manche Prominente viel Kritik aushalten und die Konsequenzen für ihr Verhalten oder ihre Aussagen tragen müssen. Trotzdem wurden nur wenige Personen des öffentlichen Lebens komplett gecancelt und ihre Karrieren für immer beendet. Stattdessen gibt’s manchmal sogar Mitgefühl und Unterstützung, insbesondere von rechten Medien.
Aber zum Beispiel trans* Menschen ihre Identität, Diskriminierungserfahrungen oder gar Existenzberechtigung abzusprechen, ist kein Austausch – sondern Hetze.
Und niemand, wirklich niemand muss sich im zweiten Jahrtausend noch darüber „austauschen“, ob das N-Wort rassistisch ist. Oder dass Menschenrechte für alle gelten. Übrigens tatsächlich für alle. Morddrohungen sind nie okay. Auch nicht gegen J.K. Rowling.
Und was hat es mit der wachsenden Spaltung der Gesellschaft auf sich? Da hilft ein Blick auf diejenigen, die tatsächlich gecancelt werden.
„Wenn man sich die Geschichte anguckt, findet man unzählige Beispiele von Menschen, die sich gegen Ungerechtigkeit ausgesprochen haben und dafür verfolgt wurden“, so der Historiker C. J. Coventry. „Mir fällt eine Reihe von Menschen in der heutigen Zeit ein, die von vermeintlich demokratischen Regierungen verfolgt werden, weil sie unbequeme Informationen preisgegeben haben.“
Die echte Spaltung der Gesellschaft verläuft nämlich nicht zwischen einem linken Online-Mob und Onkel Günther, der wie früher ungestört weiter seine widerlichen Witze raushauen will. Sondern zwischen Menschen mit Macht, Teilhabe und Privilegien und denen ohne.
„Die Kluft war schon vorher da“, sagt auch Dr. Charity Hudley. Nur jetzt sind eben auch weniger mächtige und privilegierte Stimmen von der anderen Seite dieser Kluft zu hören. Junge Leute, marginalisierte Gruppen, Frauen, Menschen mit unterschiedlichen Diskriminierungserfahrungen – sie alle reden öffentlich mit.
Das finden Konservative und Rechte ungemütlich. Deswegen tun sie oft so, als wäre die Forderung nach mehr Rechenschaft ein Aufruf zur Selbstjustiz und plärren: „Man darf ja gar nichts mehr sagen!“ Sie selbst haben aber kein Problem damit, irgendwen oder irgendwas zu canceln. Was sich beispielsweise am Verbot von Gender-Sonderzeichen in bayerischen Schulen, Hochschulen und Behörden zeigt. Oder in den Bücherverbannungen in Schulen und Bibliotheken der USA: Im Schuljahr 2022/23 gab es 3.362 Fälle. Es geht um mehr als 1500 Buchtitel, die häufig von Frauen, People of Color und/oder LGBTQI+ Personen geschrieben wurden. Darunter Werke der Schwarzen Autorin Toni Morrison, die als eine der bedeutendsten Vertreterinnen afroamerikanischer Literatur gilt.
Was man noch sagen „darf“, hängt also davon ab, wer es sagt, wem das passt und wer wie viel Macht hat. Und das ist das echte Problem
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Sprache verändert sich ständig. Und sie ist ein mächtiges Werkzeug. Denn sie beeinflusst unser Denken – und damit auch unsere Handlungen und die Realität anderer Menschen. Genau deshalb ist es wichtig, zu hinterfragen, was wir sagen. Ob wir damit weniger Privilegierte verletzen oder diskriminieren.
Ein Beispiel dafür, wie’s anders gehen kann: Die Musikerinnen Lizzo und Beyoncé haben ableistische Begriffe in ihren Songs benutzt. Nachdem sie von ihrer Community darauf aufmerksam gemacht wurden, haben sie die Texte angepasst.
Sprache zu überprüfen ist wichtig. Trotzdem dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, wer tatsächlich von Diskriminierung und Ungerechtigkeit profitiert. Wer wirklich die soziale, politische oder berufliche Macht hat, andere im echten Leben auszugrenzen und zu canceln.
Was man noch sagen darf? Alles, was Schwächere und Benachteiligte nicht abwertet oder diskriminiert. Ist das anstrengend? Ja, manchmal. Aber nur so können wir an einer gerechteren Gesellschaft für alle arbeiten. Und theoretisch dürfen wir in Deutschland so gut wie alles sagen (solange es im rechtlich legalen Rahmen bleibt) – aber müssen dann eben auch Kritik am Gesagten aushalten können.
Auch gute Comedy tritt immer nach oben und nie nach unten. Anders gesagt: Onkel Günther hätte seine schrecklichen Scherze schon in den 1990ern nicht machen dürfen. Nur jetzt muss er damit leben, dass ihm seine Nichte den Mist um die Ohren haut. Und zwar zu Recht.
Erste-Hilfe-Box: Inklusivere Sprache –
5 kurze Fragen
- Geht der Witz auf Kosten weniger privilegierter Personen? Auf jeden Fall verkneifen.
- Reduziert der Begriff einen Menschen auf einen Umstand (z. B. Obdachlose*r)? Stattdessen: Mensch ohne Wohnung oder Mensch mit Behinderung.
- Diskriminiert das Schimpfwort eine marginalisierte Gruppe? Dann lieber “Du Wurst” oder “Arschtasche” – geht immer.
- Nimmt der Satz eine geschlechtliche Identität vorweg (wie „Der junge Mann dahinten“)? Stattdessen: „Die Person dahinten im roten Pulli!“
- Kann das Wort als rassistisch interpretiert werden? Dann ist es sehr wahrscheinlich auch rassistisch und sollte nicht gesagt werden.
Weiterführende Links und Infos:
- Artikel von AARP zu Boykotte als Teil der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA (englisch)
- Wissenschaftlicher Artikel zu Cancel-Culture im akademischen Bereich
- Artikel vom Spiegel zu Beispielen geänderter Songtexte nach Kritik
- Kommentar zu Sarah Kuttner und dem N-Wort im Podcast
- Bücher-Verbannung in den USA
- USA: Debatte um Bücherverbot lockt Leser
Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich gelesenen Personen betreffen. Ebenso verhält es sich mit Jungen und Männern.
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