Männer sind systemrelevant

Es war zwar abzusehen, ist aber darum nicht weniger ärgerlich: Als wir vor gut einem Monat zum ersten Mal darüber berichtet haben, dass und wie die momentane Pandemie inbesondere Frauen betrifft, weil diese überproportional häufig Berufen im Care-Bereich nachgehen, war der Unmut bei den üblichen Verdächtigen mal wieder groß. Weil Männer ja schließlich auch systemrelevant seien und ohne sie überhaupt nichts ginge. Ärgerlich insofern, als das wir nie etwas anderes behauptet haben oder behaupten würden. Ärgerlich auch deshalb, weil wir seit mittlerweile 8 Jahren eben auch Lobbyarbeit für Männer machen. Mit eigenen Schwerpunktthemen wie Gewalt gegen Männer, Kritik an der Glorifizierung oder Verächtlichmachung von Vaterschaft oder unseren diversen Appellen, dass Männer auch ein Recht auf Verschönerung haben, ohne dass man sie dafür marketingtechnisch gleich in den Krieg schicken muss. Vor kurzem hat mein Kollege Fikri Anıl Altıntaş an dieser Stelle einen sehr lesenswerten Text darüber veröffentlicht, warum sein Vater sich stets hart geben musste, obwohl er eigentlich ein sensibler Mann ist. Und auf meiner persönlichen Habenseite steht unter anderem ein ganzes Buch darüber, dass Jungen super sind, wie man es ihnen schwer macht und warum man das lassen sollte. Unsere Arbeit ließe also durchaus die Vermutung zu, dass organisierter Männerhass nicht in unserem Interesse liegt. Aber anscheinend kann man bei diesem Thema nicht deutlich genug sein. Daher noch einmal:

Männer sind systemrelevant.

Als Beispiel hierfür werden vollkommen zu Recht immer wieder LKW-Fahrer genannt, weil die nicht nur in der jetzigen Krise die Versorgungssicherheit gewährleisten. Ohne LKW-Fahrer wären nicht nur die Supermärkte leer sondern auch die Krankenhäuser, Apotheken und Tankstellen. Selbstverständlich gilt das auch für LKW-Fahrerinnen. Das ändert aber nichts daran, dass der Frauenanteil in diesem Berufsfeld lediglich bei etwa 1,8% liegt. Auch anhand dieses Jobs zeigt sich wie fahrlässig und unverantwortlich wir als Gesellschaft mit Menschen umgehen, die eine wichtige Arbeit erledigen. Schätzungsweise 50.000 Fahrer*innen fehlen. 90% beklagen sich über das schlechte Image des Berufes, viele verzweifeln an der fehlenden Work-Life-Balance.

Dazu kommt die unterdurchschnittliche Bezahlung.

Und in Coronazeiten stundenlang vor Grenzkontrollen warten zu müssen, ohne sich mit dem Notwendigsten versorgen zu können, macht die Situation auch nicht gerade besser.

Als ähnlich männerdominiertes, wenig wertgeschätztes und schlecht bezahltes Berufsfeld werden oft „Müllmänner“ bei der städtische Müllabfuhr genannt. Auch hier aus guten Gründen. 38 Millionen Tonnen Müll werden jährlich abtransportiert. Ohne diese Menschen würden wir in unseren eigenen Abfällen ersticken. Und auch hier finden sich kaum Frauen. Interessanterweise auch deshalb, weil viele Stadtreinigungen bis vor kurzem noch keine Frauen an der Tonne geduldet haben. 2016 waren Frauen in Hamburg, Frankfurt und München schon als „Müllfrauen“ beschäftigt, in Berlin und Köln nicht. Die Begründung aus Berlin dazu lautete, man wolle keine „Müllabfuhr light“, die Arbeitsbelastung sei für Frauen zu hoch. Mittlerweile hat man sich diesbezüglich korrigiert.

Die Liste lässt sich fortsetzen. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir von einem Mann ein Paket zugestellt bekommen oder ein Mann einen Brand löscht, ist überdurchschnittlich groß. Die Systemrelevanz von Männern zu leugnen, macht ebenso wenig Sinn wie das Abtun der Tatsache, dass viele für unsere Gesellschaft zentrale Berufe nicht ausreichend bezahlt und gewertschätzt werden.

Warum wir den Fokus trotzdem immer wieder auf Frauen legen, hat vor allem damit zu tun, dass diese Pandemie aufzeigt, wie tief wir in einer Krise des Kümmerns stecken. Wie sehr wir uns in die Annahme verrannt haben, man müsse Kinderbetreuung und -Erziehung gar nicht oder schlecht bezahlen und man könne einfach mit allem so weiter machen wie bisher, weil sich Frauen schon um Kinder und Pflegebedürftige kümmern werden. Eine Arbeit, die oftmals zusätzlich zu einer Erwerbstätigkeit geleistet werden muss. Um das zu verdeutlichen, genügt ein einfaches Beispiel: 450.000 Alleinerziehende arbeiten in systemrelevanten Berufen. 91% der Alleinerziehenden sind Frauen. 409.500 Frauen betreuen also alleine mindestens ein Kind und haben Anspruch auf Notfallbetreuung, weil sie einen systemrelevanten Job machen. Was ist mit den anderen 1,8 Millionen Alleinerziehenden, davon 1,5 Millionen Frauen? Die stehen ohne jede Unterstützung alleine Zuhause an der Kinderfront. Wo bleibt die Unterstützung für diese Menschen? Wo ein Corona-Kindergeld, digitale Betreuung, kostenlose Bildungsangebote und dergleichen mehr. Dass wir uns in diesem Zusammenhang über ein Gremium von hauptsächlich Männern ärgern, die realtitätsferne Empfehlung für Exitstrategien aus dem Lockdown geben, sollte klar sein. Genauso wie die Tatsache, dass wir Frauen nicht gegen Männer ausspielen wollen. Es geht nicht um eine „Wen trifft es am schwersten“ Olympiade, sondern um einen genauen Blick. Sowohl das Kraftfahrzeugfahren als auch die Müllbeseitigung bringen ihre Herausforderungen und Schwierigkeiten mit, die es zu analysieren gilt und mit denen umgegangen werden muss. Die Tatsache, dass es durch die geschlechtsspezifische Zusammensetzung vor allem Frauen sind, die im Einzelandel direkt einer gestressten Kundschaft ausgesetzt sind und Gefahr laufen, angehustet und angesteckt zu werden, schmälert das nicht. Es zeigt nur, dass wir genau hinsehen müssen. SARS-CoV-2 lässt sich zwar auch über Oberflächen übertragen, aber der direkte Kontakt mit Betroffenen ist das viel größere Problem. Das zu benennen heißt nicht, die Verkäuferin über den LKW-Fahrer zu stellen. Es bedeutet lediglich von den vielen Dingen, die gerade im Argen liegen, eine besonders schwerwiegendes Problem herauszuarbeiten.

Uns wird gerade unser gesellschaftliches Versagen live vor Augen geführt. Mitten in einer Pandemie werden Erntehelfer*innen eingeflogen, damit hier Spargel geerntet werden kann. Das kostet Menschenleben.

Mitten in einer Pandemie fällt uns auf, dass wir viel zu wenig für Gewaltschutz und Prävention getan haben. Das kostet Menschenleben.
Mitten in einer Pandemie realisieren wir erst, dass Pakete liefern, Menschen versorgen, Gebäude und Städte reinigen und vor allem Kinder betreuen keine „niedrigen Tätigkeiten“ sind. Es sind die, ohne die alle anderen überhaupt nicht möglich sind. Wir reden also nicht über diese Tätigkeiten, weil es uns um Männer oder Frauen geht, sondern über Frauen und Männer, weil es um diese Tätigkeiten geht. Und das werden wir auch weiterhin tun.

Foto Credit: Freepik

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