Männer und Kondome

Aktuelle Ergänzung vom 01.02.2023: der Bundesgerichtshof hat sich erstmals zum Thema „Stealthing“ geäußert und beschlossen, dass dieser Vorgang als Vergewaltigung gewertet werden kann.

Es ist eine gute Nachricht: Nachdem ein Amtsgericht in Kiel vorinstanzlich anders entschieden hatte, kassierte das Oberlandesgericht in Schleswig das Urteil und bewertete das sogenannte Stealthing grundsätzlich als mögliche Straftat. Stealthing bezeichnet das nicht einvernehmliche Entfernen eines Kondoms während eines zunächst einvernehmlich zustande gekommenen Sexualkontakts. Dass es viel zu lange als straffreies Kavaliersdelikt galt und man sich erst ganz allmählich Gedanken darüber macht, inwiefern es auch im juristischen Sinn einen „sexuellen Übergriff“ darstellt, ist die schlechte Nachricht hinter der guten. Denn zum einen glauben offenbar viel zu viele, dass es „ihr gutes Recht“ sei, das Präservativ während des Geschlechtsverkehrs zu entfernen. Anders lassen sich Studienergebnisse von Frauen in ihren 20ern nicht erklären, von denen ganze 12% berichten (also mehr als jede Zehnte), dass sie bereits Opfer von Stealthing geworden sind. Und auch nicht die Suchanfragen bei Google, in denen mehr oder weniger unverblümt gefragt wird, wie man denn das jetzt am besten anstellt.

Und zum anderen ist Stealthing schon seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten ein Problem. 2013 hieß Stealthing noch „Kondomsabotage“ und bezeichnete vorrangig das Phänomen, dass Kondome mit Nadeln perforiert wurden , um ihre Schutzfunktion außer Kraft zu setzen. Schon damals wurde darauf hingewiesen, dass auch heterosexuelle Männer Opfer dieses Vorgehens durch ihre Sexualpartnerin werden können. Selbst eine vollständige nichteinvernehmliche Entfernung des Kondoms durch Sexualpartnerinnen kommt vor und sollte dementsprechend einen Straftatbestand erfüllen. Aber in den allermeisten Fällen sind die Opfer heterosexuelle Frauen oder homosexuelle Männer. Und die Täter dementsprechend: Männer.

Deshalb lohnt es sich auch, einen genaueren Blick auf das Verhältnis von Männern zu Kondomen zu werfen. Und darauf, wieso zu viele von ihnen angebliche oder tatsächliche Schwierigkeiten mit Kondomen haben. Denn Stealthing ist auf allen Ebenen eine furchtbare Idee – auch für den Täter. Er zerstört damit nicht nur die Beziehung zu seiner Sexualpartnerin oder seinem Sexualpartner, sondern setzt sich auch selbst schwerwiegenden gesundheitlichen Risiken aus. Was also soll bitteschön „geil“ an Stealthing sein? Sich möglicherweise Gonorrhoe, Syphilis und HIV zuzuziehen und hoffentlich wegen Vergewaltigung angezeigt zu werden (denn genau das ist es) kann es ja nicht sein. Und das Machtgefühl, das daraus resultiert, dem Opfer etwas zuzumuten und aufzuzwingen, dass es nicht gewollt hat, ist allein auch keine hinreichende Erklärung.
Vielmehr ist es so, dass eine Vielzahl von Männern grundsätzlich versucht, sexuelle Kontakte ohne Kondom herzustellen. Und das bezieht sich nicht nur auf den Bereich Sexarbeit, wo die Forderung nach AO (alles ohne) mit immer dringlicher wird, je schwieriger und gefährlicher die Arbeitsbedingungen für Sexarbeiterinnen sind. Deshalb ist es auch so gefährlich, diese Entwicklung so zu framen, als hätten Prostituierte schlicht keinen Bock auf Gummis.

Tatsächlich „verzichten“ 34,2% der Prostituierten in der Schweiz auf Kondome, weil der Kunde dann mehr zahlt. 22,8% tun es, weil der Kunde den Gebrauch eines Kondoms verweigert hat und 19,6% haben Angst, den Kunden andernfalls zu verlieren. Nur 2,5% halten einen Gebrauch für nicht nötig.
Sondern es bezieht sich auch auf den privaten Bereich, in dem junge Frauen und Mädchen davon berichten, dass sie nicht nur durch offene Gewalt zu ungeschütztem Sex gezwungen werden, sondern auch durch emotionale Manipulation:
„Wenn du mich lieben würdest, dann…“
„Wir gehen jetzt schon so lange miteinander, also…“
„Vertraust du mir nicht? Wenn du mir vertrauen würdest, könnten wir…“
„Das letzte Mädchen, mit dem ich was hatte, hat aber…“
In der Folge verstummen Frauen und Mädchen immer mehr in präsexuellen Verhütungsverhandlungen.

Sie erfahren so viel Ablehnung, gespielte Verletzheit und Manipulation, dass sie es als ihre Aufgabe betrachten, dem männlichen Sexualpartner ihr eigenes Bedürfnis an Sicherheit und Schutz möglichst nicht zuzumuten.

Also was genau ist denn so schlimm an Kondomen, dass einige versuchen, sie um jeden Preis zu vermeiden und zu sinnentleerten, geradezu lächerlichen Ausreden greifen? Der ganze Schwachsinn à la „Ich pass schon auf“, „Ich habe eine Latex-Allergie“ (dafür gibt es Alternativprodukte) und „Dafür ist mein Penis zu groß“. Denn tatsächlich ist es genau andersherum: Die US-amerikanische Gesundheitsbehörde FDA hat 2018 kleinere Kondomnormgrößen genehmigt, weil die übliche Kondomgröße für den durchschnittlichen Mann zu groß waren. Und es ist zwar auch richtig, dass einige Studien darauf hinweisen, dass es bei einigen Männern im Umgang mit Kondomen zu Erektionsproblemen kommt. Es gibt aber eben auch die, die belegen, dass Sex mit Kondom für Männer genauso lustvoll und befriedigend ist wie Sex ohne Kondom. Was für Männer angeblich so schlimm an Kondomen ist, findet vor allem in ihren Köpfen statt.

Zusammenfassend bedeutet dies, dass es einer Dreifachstrategie bedarf, um die allgemeine Kondomabneigung von Männern und insbesondere das Problem des Stealthings in den Griff zu bekommen.

  1. Stealthing muss sozial geächtet und juristisch deutlich und unmissverständlich strafbewehrt werden – und zwar geschlechtsübergreifend.
  2. Auf die Ideologie vom „männlichen Anrecht, seinen Samen zu verbreiten„, muss mit aller Entschiedenheit und Konsequenz reagiert werden – auch und gerade von Männern. Schluss mit Bro Culture und „Naja, er ist mein bester Freund“. Frauenverachtung, Übergriffigkeit und sexualisierte Gewalt darf nicht länger fester Bestandteil von Männlichkeitsgenese sein. Nein, das gehört eben nicht dazu, ein Mann zu sein.
  3. Gleichzeitig müssen endlich Räume dafür geöffnet werden, was es auch bedeuten kann, ein Mann zu sein.

In unserer phallozentristischen, schwanzfixierten Gesellschaft, die ein ums andere mal den riesigen, dauereregierten, ungummierten, alles besamenden Penis als ultimativen Ausweis von Männlichkeit einfordert, müssen die Fakten endlich geradegezogen und Mannsein neu erzählt werden:
Manche Männer haben eine Vulva. Manche Männer haben vergleichsweise kleine Penisse. Erektionen kommen und gehen und „machen nicht den Mann aus“. Erektionsstörungsfreie Penetration ist nicht der sexuelle Goldstandard, sondern nur eine Variante von vielen. Männlichkeit zeichnet sich nicht vor allem dadurch aus, dass man(n) sexuell abliefert und sexuell abliefern ist nicht gleichbedeutend damit, eine mindestens normgroße, andauernde und penetrationsbereite Erektion vorweisen zu können. Aber so wird Erektion erzählt. Pornografisch, literarisch, visuell, virtuell. Diese Erzählweise stellt Männer als immer bereite Ficker dar, die sich in Ausübung ihrer Männlichkeit nicht von einem Kondom stören lassen wollen. Und genau das müssen wir ändern.

Denn Männer und Kondome, das könnte eigentlich auch eine Liebesgeschichte sein. Eine Geschichte von Dankbarkeit und Erleichterung darüber, dass es ein so großartiges Hilfsmittel gibt, um geschützten Sex zu ermöglichen. Dass Familienplanung ermöglicht, ungewollte Schwangerschaften und Geschlechtskrankheiten verhindert. Mit einem Wort: Dass es Männern erlaubt, in diesem Bereich Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen. Solange wir unverantwortlichen Sex als besonders männlich und für Männer legitim ansehen, wird es Männer geben, die im Internet nach „Tipps und Anleitungen“ zum Stealthing suchen und diese anschließend in die Tat umzusetzen suchen. Und das ist und bleibt eine schlechte Nachricht.

Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen bzw. Männern und Jungs sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich und männlich gelesenen Personen betreffen. Wenn wir die Adjektive „weiblich” oder „männlich” benutzen, beziehen wir uns ebenfalls auf die stereotypische gesellschaftliche Verwendung der Begriffe.

Bild: Pinkstinks Germany e.V.

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