Männer werden doch nicht depressiv!

Triggerwarnung: Die folgenden Inhalte behandeln u. a. die Themen Despression und Suizid.

Heute geht’s um ein komplexes medizinisches Thema. Und klar, wir sind keine Mediziner*innen. Wir fragen stattdessen, was Depressionen mit Sexismus zu tun haben und wie die gesellschaftliche Rolle des “Mannes” dazu beiträgt. Natürlich sind von dieser Erkrankung alle Geschlechter betroffen, auch wenn Studien bislang nur Männer und Frauen berücksichtigen. Und warum widmen wir uns dann ausgerechnet den Männern? 

„Männer heulen nur heimlich“ – so ein Mantra ist nicht nur kompletter Quatsch, sondern auch schädlich bis gefährlich. Denn die Vorstellung vom immer starken Kerl führt dazu, dass Depressionen bei Männern oft viel zu spät oder gar nicht erkannt werden.

Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) werden durchschnittlich etwa doppelt so viele Frauen (15,4 Prozent) im Laufe ihres Lebens mit einer Depression diagnostiziert wie Männer (7,8 Prozent). Aber: Es nehmen sich etwa dreimal so viele Männer das Leben wie Frauen. Hauptursache für Tod durch Suizid sind Depressionen. Wie passt das zusammen?

Hier kannst du unser Video auch auf Vimeo schauen. 
Du willst das Video teilen? Dann schau doch mal auf Instagram oder Facebook.

Dunkelziffer bei Depressionen

Bei einem leider noch so tabubehafteten Thema wie einer psychischen Erkrankung gibt es generell eine hohe Dunkelziffer – auch unter Männern. Ein Grund dafür sind unsere starren männlichen Geschlechternormen. Bei diesen Normen handelt es sich um Vorstellungen davon, was für Geschlechter als akzeptables Verhalten gilt. Genau hier kommen gesellschaftlich geprägte Glaubenssätze wie „Jungs weinen nicht“ und „Männer sind immer stark“ – aber auch „Frauen sind so irrational und emotional“ – ins Spiel. 

Oder wie ein Teilnehmer der qualitativen Studie zu Männlichkeit und Depression in Deutschland (2020) in einem Interview reflektierte: “Depressionen gibt es bei Männern nicht. Männer sind die Ernährer, die Problemlöser, die Macher.“ 

Anders gesagt: Gefühle werden im Patriarchat mit Weiblichkeit verbunden. Und wenn ein Mann im Patriarchat eines auf überhaupt gar keinen Fall sein darf, dann weiblich.

Ein Mann mit einer depressiven Störung kann an Status und Männlichkeit verlieren und damit auch ein Stück Identität.

Das gesellschaftlich vorgesehene und traditionelle Männerbild sieht ja so aus: stark, rational, leistungsorientiert, anpackend und erfolgreich. Immer alles im Griff. Diese Vorstellungen wirken sich im Zusammenhang mit Depressionen auf verschiedenen Ebenen und unterschiedlichen Weisen aus.

Andere Symptome, anderer Umgang?

Männer können nicht nur andere Symptome erleben als Frauen, auch die Auslöser für eine Depression können aufgrund des traditionellen Rollenbildes etwas anders gelagert sein. Für einen Mann, der sich stark am stereotypischen Männlichkeitsbild orientiert, bedrohen zum Beispiel Probleme im Job das leistungsorientierte Selbstbild. Das kann auf Dauer zu depressiven Verstimmungen führen.

Ein Mann, der die traditionellen Geschlechternormen verinnerlicht hat, erkennt eine Depression auch nicht unbedingt als solche oder ignoriert die Anzeichen. Es kann ja nicht angehen, dass er depressiv ist – schließlich ist er ein Mann und Macher! Stattdessen verharmlost er vielleicht Symptome wie Schlaflosigkeit, Antriebslosigkeit und Konzentrationsprobleme als vorübergehende Schwäche, die es auszuhalten und zu überwinden gilt. Auch zunehmende Reizüberflutung und eine daraus entstehende allgemeine Überforderung können Symptome einer Depression sein, aber völlig anders interpretiert werden.

Angst vorm Stigma

Aber zurück zum Rollenbild: Selbst wenn Männer erkennen, dass etwas mit ihnen nicht stimmt – sie dürfen natürlich niemals Schwäche zeigen! Das heißt: Sie suchen seltener Hilfe und werden allein deshalb seltener diagnostiziert. Lieber versuchen sie, ihre Schwierigkeiten alleine zu lösen. Motto: „Was mich nicht umbringt, macht mich härter“.

Wenn ein Mann dann doch offen vermutet oder mitteilt, dass er an einer Depression erkrankt ist, erwarten ihn wahrscheinlich verletzende oder sogar existenzbedrohende Vorurteile:

Zum Beispiel, dass die Erkrankung seine Karriere beeinträchtigen könnte. So gaben auch mehrere Teilnehmer der Studie zu Männlichkeit und Depression an, dass sie sich aufgrund ihrer depressionsbedingten Arbeitsunfähigkeit von Kolleg*innen stigmatisiert fühlten. Sie wurden als „Verlierer“, „faul“ oder „unfähig“ abgestempelt. Und ihre Symptome wurden nicht ernst genommen: „Ich habe oft gehört ‚Reiß dich zusammen! Mach nicht so ein Theater‘“, berichtete einer der Studien-Teilnehmer.

Diese Kritik erleben natürlich alle Geschlechter, zumal sie meistens aus Unwissenheit entsteht – aber aufgrund des starren Rollenbildes werden Männer hier besonders unter Druck gesetzt.

Auch im familiären Umfeld oder unter Freund*innen fehlt es an Empathie und Unterstützung, wenn die Männer sich schließlich öffnen. Denn auch da kommen die gesellschaftlichen Rollenerwartungen zum Tragen: ob als Vater, als Ernährer oder einfach nur als leistungsfähiger Partner. Wenn ein Mann diese Erwartungen aufgrund einer Depression nicht erfüllen kann, trifft das nicht immer auf Verständnis und Mitgefühl. Nicht mal bei ihm selbst: Vielleicht hadert er mit der eigenen Daseinsberechtigung. Was ist er noch wert, wenn er gerade nichts leisten kann? 

Wut statt Traurigkeit

Weil Männern im Patriarchat bestimmte Gefühle wie Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Schwäche und Erschöpfung nicht zugestanden werden, drückt sich Depression bei ihnen häufig anders aus als bei Frauen. Nämlich in dem einzigen Gefühl, das sie (neben Fußballtränen) gefahrlos zeigen dürfen: Wut. 

Ein Beispiel: Auf der schwedischen Insel Gotland gab es in den 1980er Jahren eine hohe Suizidrate. Nachdem Hausärzt*innen darauf geschult wurden, Depressionen zu erkennen, ging die Zahl zurück. Aber nur bei den Frauen. Betroffene Männer gerieten eher mit der Polizei aneinander. 

Grund: Unter Stress und Serotoninmangel neigen Männer eher zu Aggressivität und Impulsivität. Sie verhalten sich riskant, hyperaktiv oder trinken viel Alkohol. All das zählt aber nicht zu den typischen Symptomen einer Depression.

Selbst Therapeut*innen, Psychiater*innen und Mediziner*innen gestehen Männern Depressionen nicht zu. Das klassische Diagnose-Verfahren konzentriert sich eher auf „weibliche“ Ausdrucksformen von Depression wie Traurigkeit und Antriebslosigkeit. Davon berichten betroffene Männer aber seltener. Liegt das vielleicht auch daran, dass sie ihr Gefühlsspektrum aufgrund ihrer stereotypen Erziehung gar nicht so genau kennen und einzelne Zustände nicht so klar benennen können?

Schon allein durch allgemeine Vorannahmen aufgrund des Geschlechts (Gender Bias) werden Depressionen bei Männern viel zu oft gar nicht erkannt – selbst, wenn sich endlich Hilfe suchen. 

Im Gegensatz dazu werden Frauen tendenziell überdiagnostiziert. Selbst ihre körperlichen Beschwerden werden eher psychologisiert. Auch das hängt mit Geschlechterrollen zusammen. Frauen kann demnach unmöglich zugetraut werden, ihren eigenen Zustand angemessen einzuschätzen; „sie stellt sich an“ oder „sie ist hysterisch“. Zudem dürfen Frauen ihrer Rolle entsprechend zwar depressiv und traurig sein, aber keinesfalls wütend. Deshalb kann es sein, dass ihre unterdrückte Wut sich als Depression äußert.

Zusammengefasst: Depression ist keine Frauenkrankheit; die patriarchale Gesellschaft macht sie dazu. Und Männer sind genauso davon betroffen.

Braucht es also geschlechtssensible Medizin?

Die unterschiedlichen Symptome und Verhaltensweisen von Frauen und Männern bei Depressionen sind ein gutes Beispiel. Aufgrund von gesellschaftlichen Rollenbildern oder auch anderen biologischen Prozessen im Körper gibt es Unterschiede, die bisher nicht in der Forschung berücksichtigt wurden. Die Gendermedizin will das ändern.
So ist mittlerweile bekannt, dass sich ADHS bei Frauen anders äußert als bei Männern. Weil die Symptome aber weniger geläufig sind, werden Mädchen, Frauen und weiblich gelesene Personen seltener oder erst sehr spät mit ADHS diagnostiziert. Männer erkranken drei Mal häufiger an Bauchspeicheldrüsenkrebs als Frauen. Die Aufnahme und Verarbeitung von Schmerzmitteln unterscheidet sich bei Männern und Frauen. Erst indem in der medizinischen Forschung die Unterschiede anerkannt werden, können Diagnostik und Behandlung für alle Geschlechter verbessert werden.

Fatale Folgen

Wenn eine Depression nicht diagnostiziert und behandelt wird, ist das schlimm und gefährlich. 

Die betroffene Person leidet mitunter jahrelang. An der Depression, aber zusätzlich auch unter Einsamkeit und Isolation. Sozialer Abstieg kann ebenfalls eine Folge von Depression sein, beispielsweise bei Jobverlust und langer Krankheitszeit. Dazu kommen Probleme mit Abhängigkeit, zum Beispiel von Alkohol. Aber auch andere körperliche Erkrankungen wie Herzprobleme und Diabetes. Letztlich kann eine unerkannte und unbehandelte Depression tatsächlich tödlich enden, wenn die Betroffenen sich das Leben nehmen. 

Das Patriarchat erlaubt Männern keine Depression. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie nicht darunter leiden oder daran sterben. So gesehen bringt das Patriarchat indirekt Männer um.

Weg mit toxischer Männlichkeit!

Die gute Nachricht ist: Das muss nicht so bleiben. Der Studie zu Männlichkeit und Depression zufolge, haben die Teilnehmenden ihre Einstellungen zu Depression geändert, nachdem sie sich Hilfe und Behandlung gesucht hatten. Sie haben auch einen anderen Blick auf Geschlechternormen entwickelt. „Die Einstellung ‚Ich darf keine Schwäche zeigen, ich darf nicht krank sein‘ sollte man ablegen“, sagte einer der Befragten.

Ein wichtiger Schritt, um Leben zu retten und Leid zu verringern: Weg mit den toxischen Vorstellungen von traditioneller Männlichkeit! 

Nicht nur, dass die in der Realität ohnehin niemand wirklich voll erfüllen kann – nur so kann die Verknüpfung von Depression mit Unmännlichkeit abgebaut werden. Nur so können Männer lernen, dass allen Menschen eine Bandbreite von Gefühlen zusteht, dass krank sein nicht schwach sein heißt. Und dass es okay ist, nicht okay zu sein. Und nur so schaffen wir eine Basis für eine gleichberechtigte Gesellschaft: Indem wir uns allen den Raum geben, menschlich zu sein statt stereotyp. Darum ging’s heute mal nur um „die Männer”.

Sind Männer anders depressiv?
5 Erkenntnisse

5.  Depressionen bei Männern sind real. Etwa 7,8 Prozent werden (in Deutschland) im Laufe ihres Lebens mit einer Depression diagnostiziert, aber …

4. … die Dunkelziffer ist mit Sicherheit höher: Männer gehen oft erst in die ärztliche Praxis, wenn gar nix mehr geht. Warum holen sie sich oft gar keine oder viel zu spät Hilfe?

3. Das liegt oft am starren Männlichkeitsbild. Dieses gesellschaftlich geprägte Bild beeinflusst auch die Symptome: Bei Männern äußern sich Depressionen häufiger in Gereiztheit, Wut, (körperlicher) Aggression oder auch …

2. … als Reizüberflutung, Überforderung oder durch den Versuch, Gefühle z. B. mit Drogen zu betäuben, wie der abendlichen Flasche Wein zum Runterkommen.

1. Und: Es ist kein Zeichen von Schwäche, sich Hilfe zu suchen. Ganz im Gegenteil! 💜 Auch Angehörige und Freund*innen können mithelfen: Zuhören. Ernst nehmen. Da sein. Und dranbleiben. 💜 

Professionelle Hilfe findest du hier:

Kreisen deine Gedanken darum, dir das Leben zu nehmen? Suizidale Gedanken sind häufig Folgen von psychischen Erkrankungen, die mit professioneller Hilfe gelindert und sogar geheilt werden können.

Weiterführende Links und Infos:


Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen bzw. Männern und Jungs sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich und männlich gelesenen Personen betreffen. Häufig greifen wir auch Statistiken auf, die meistens leider nur die binären Geschlechter “Frau” und “Mann” berücksichtigen. 

Kommentare zu diesem Text könnt ihr uns in unseren Netzwerken hinterlassen und dort mit fast 140.000 Menschen teilen!

Bildquelle: Pinkstinks Germany e. V.