Männerrechte auf den Nacken von Frauen

Eine Kolumne von Nils Pickert

Triggerwarnung: Der folgende Inhalt behandelt das Thema Gewalt gegen Frauen

Vor ein paar Wochen hatten wir einen Teamtag mit PINKSTINKS im Gängeviertel. Zufällig fand er in demselben Raum statt, in dem ich an einem heißen Junitag vor 6 Jahren schon einmal saß, um mit dem Journalisten Jens Jessen ein Streitgespräch über Feminismus zu führen. Aus dem daraus resultierenden Spiegelartikel zitiert meine älteste Tochter immer noch, wenn sie mich aufziehen will. »Kaum graue Haare und Trekkingsandalen«, sagt sie und grinst mich an, als wir uns auf dem Bahnhof begrüßen. Mit deutlich mehr grauen Haaren und bei Hitze immer noch in Trekkingsandalen zitiere ich auch immer noch etwas aus diesem Artikel. Nämlich den Satz: »Mich berührt das sehr exotisch.«

Mit diesem Satz kommentierte Jessen damals die Erfahrungsberichte von Frauen, darunter einige journalistische Kolleginnen, über gespikte Drinks in Bars und Kneipen. Mit Anfang 60 konnte oder wollte er sich einfach nicht ausmalen, dass so etwas tatsächlich passiert. Mich macht dieser Satz und die ihm zugrunde liegende Haltung nach wie vor fassungslos. Denn beabsichtigt oder nicht: Dieser Satz impliziert den Vorwurf, die betroffenen Frauen würden lügen. Lügen, übertreiben, sich Sachen ausdenken. Quelle dieser Erkenntnis: Mann kann sich das nicht vorstellen. Dass Kolleginnen darüber berichten – egal. Dass es Produkte gibt, um Spiking zu verhindern, die insbesondere von Frauen vielfach gekauft und eingesetzt werden – unwichtig.

Das »Gibt’s nicht, weil kann ich mir nicht vorstellen« Argument ist das, was in der Fachsprache als argument from incredulity bezeichnet wird. Ein Argument also, dass sich aus nichts anderem als der eigenen Ungläubigkeit speist: Ich kann mir nicht vorstellen, dass X wahr ist, also ist X falsch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Y falsch ist, also ist Y richtig. Wie wichtig dieser Fehlschluss im »Argumentieren« gegen feministische Bemühungen um Gleichberechtigung und Emanzipation ist, zeigte sich auch ein Jahr später. Da schickte die Rheinische Post einen Reporter nachts in den Düsseldorfer Hofgarten, nachdem es Berichte darüber gegeben hatte, dass mehrere Jugendliche dort eine Frau vergewaltigt hätten. Der Reporter lief entspannt und unbehelligt durch den nächtlichen Park und verfasste anschließend einen Artikel darüber, warum er die ganze Aufregung nicht so recht verstehe. Die Tatsache, dass er als Mann womöglich ein anderes Sicherheitsgefühl hat und mit einer anderen Bedrohungslage konfrontiert ist, war ihm dabei irgendwie entfallen. Auch hier: Ich kann mir nicht vorstellen, dass X wahr ist, also ist X falsch. Und während X noch falsch gefunden wird, werden drei Jugendliche wegen Vergewaltigung einer 51-jährigen Frau verurteilt.

Und die Wichtigkeit dieses Fehlschlusses zeigt sich auch heute. Vor ein paar Tagen erschien im Spiegel ein Essay des Journalisten Ralf Neukirch. Er trägt den Titel »Ohne euren Männerhass wäre die Welt noch schöner« und soll eine Replik auf einen Essay seiner Kollegin Elisa von Hof sein, die sich angesichts von Femiziden, Rechtsextremismus und Patriarchat vorstellt, wie schön eine Welt ohne Männer wäre.

Ich habe den Text von Ralf Neukirch auf Instagram als verlogenen Scheißtext bezeichnet, der unfassbar wehtut. Denn zum einen zieht Neukirch darin wieder die Ungläubigkeitskarte. Weil ein Kollege es angesichts der Gewaltstatistiken für höchstwahrscheinlich hält, dass jeder Mann einen Mann kennt, der schon einmal gewalttätig gegen Frauen gewesen ist, fühlt Neukirch sich bemüßigt zu widersprechen: »Ich kenne in meinem Umfeld niemanden, bei dem das so ist.«
Dann also noch einmal ganz langsam für die Ralfs in den hinteren Reihen.

Jede. Dritte. Frau.

Wenn jede dritte Frau in ihrem Leben schon einmal Opfer physischer und/oder sexualisierter Gewalt geworden ist, dann ist es extrem wahrscheinlich, dass sich im Umfeld jedes Mannes, der sozial auch nur halbwegs durchschnittlich mit anderen Menschen interagiert, ein Täter befindet. Der Bekanntenkreis besteht im Schnitt aus ca. 42 Menschen. Täter im Umfeld von Männern zu vermuten, ist keine Meinung, sondern schlichte Wahrscheinlichkeit.

Zum anderen wirbt Ralf Neukirch auf den Nacken von Frauen für Männerrechte. Auch diese Strategie existiert seit Jahren. Und sie schmerzt mich ganz persönlich. Denn auch wenn ich nachvollziehen kann, dass Neukirch für seine drei Söhne keine Welt möchte, die Männer hasst, und in seinem Text Probleme anspricht, mit denen Jungen und Männer tatsächlich konfrontiert sind, ist das eine furchtbare, um nicht zu sagen widerliche Strategie. Ich schreibe, mache und tue seit über 15 Jahren zu feministischen Themen. Jedes Mal, wenn ich einen Text über Gewalt gegen Frauen schreibe, kotzen mir irgendwelche Dudes in die Kommentare, was denn mit Gewalt gegen Männer sei? Also habe ich mir angewöhnt, zurückzufragen: Ja, was ist denn damit?

Was ist denn mit den Männern, die mich im Zuge meines Buches Prinzessinnenjungs angeschrieben und mir davon berichtet haben, wie sie als Kind von ihren Vätern mit Gürteln und Rohrstangen geschlagen wurden, weil sie widersprochen haben, Trost brauchten oder einfach nur anders waren?
Was ist denn mit den Männern, die bei meinen Vorträgen in Tränen ausbrechen, wenn ich darüber rede, dass eine gleichberechtigte Gesellschaft auch eine wäre, in denen ihnen ihre Gewalterfahrung geglaubt würde, anstatt ihnen dafür ihre Männlichkeit abzusprechen?
Und was zur Hölle ist eigentlich mit dir Ralf, dass du ganz entspannt verschweigst, wer in den meisten Fällen die Täter sind. Denn es stimmt, was du schreibst:

»Ich würde einen anderen Satz formulieren: Es ist höchstwahrscheinlich, dass jeder Junge einen anderen Jungen kennt, dem schon mal Gewalt angetan wurde. Dem gedroht wurde, damit er sein Handy rausrückt. Dem die Nase gebrochen wurde, weil er den Falschen blöd angeguckt hat. Der Sohn eines Bekannten wurde so übel zusammengeschlagen, dass er womöglich nie wieder laufen kann.«

Aber wer bedroht denn Jungen, dass sie das Handy herausrücken? Wer bricht Nasen? Wer hat denn den Sohn deines Bekannten zusammengeschlagen? Ja genau, Ralf. Einfach nicht dazuschreiben. Einfach so tun, als wären Jungen und Männer nicht durch allgegenwärtige Männlichkeitszurichtungen die größte Gefahrenquelle für Jungen und Männer. Als würden Jungen und Männer nicht mehrheitlich durch andere Jungen und Männer bestohlen, beraubt, geschlagen, vergewaltigt und getötet. Und dann am Ende Frauen noch vorwerfen, sie würden das alles nicht sehen wollen. Ich würde lachen, wenn es nicht zum Heulen wäre. Feminismus alimentiert Männerthemen seit Jahrzehnten, weil wir Durchschnittsdudes uns nicht selber kümmern.
Wir gehen nicht für Gleichberechtigung auf die Straße.
Wir organisieren keine Antigewaltkurse an den Schulen unserer Söhne.
Wir sind nicht auf dem Cover des Sterns, weil wir unserer Partnerinnen bei ihrer Entscheidung zur Abtreibung unterstützt haben.
Wir setzen die Politik nicht unter Druck, damit die systematische sexualisierte Gewalt innerhalb der Kirchen auch und gerade an Jungen restlos aufgeklärt und angemessen bestraft wird.
Wir sagen unserem Kumpel nicht, dass er das Maul halten soll und wir ihm die Freundschaft kündigen, wenn er noch mal einen sexistischen Witz macht.

Wir werten unsere eigenen Anliegen und die von Frauen und Mädchen ab, indem uns immer nur dann einfällt, dass es was zu tun gäbe, wenn sich mal wieder die Nachrichten zu Femiziden überschlagen. Wenn in Frankreich Gisèle Pelicot den unfassbaren Mut aufbringt, ihrem Peiniger und seinen Gehilfen ins Gesicht zu sehen und der Welt zu zeigen, was ihr angetan wurde. Und wo wir hier gerade unter uns sind, ist das mit dem angeblichen oder tatsächlichen »Männerhass«, der dich so umtreibt, schnell erklärt:

Frauen wollen einfach nur das Mindeste und es wird ihnen zumeist von Männern vorenthalten. Sie würden gerne nicht betäubt, geschlagen, vergewaltigt und ermordet werden. Sie möchten anziehen, was sie wollen. Sie haben keine Lust darauf, dass ihre Entscheidungen permanent angezweifelt, übergangen oder rückgängig gemacht werden. Sie wollen nachts durch den Düsseldorfer Hofgarten laufen und sich dabei aus gutem Grund sicher fühlen. Sie wären ganz gerne nicht darauf angewiesen, sich permanent rückversichern und schützen zu müssen. Mit eingespeicherten Notrufnummern, Schlüssel in der Faust und der Frage »Ist Luisa da?« auf den Lippen. Frauen wollen Schutz von Männern vor Männern nicht nötig haben müssen. Frauen wollen nicht belauert werden. Sie haben Bock auf faire Aufstiegschancen und Gehälter und keinen Bock auf geschlechtsspezifische Altersarmut. Sie fänden es ganz nett, einfach mal irgendwo stattfinden zu können, ohne dass ihre schiere Existenz von Männern kommentiert, reglementiert oder objektifiziert wird.

Also gerne Männerrechte, Ralf. Falls ich mal eine NGO gründen sollte, die sich in feministischer Solidarität um Männerthemen kümmert und gegen patriarchale Zurichtungen kämpft, ruf ich an. Dann schreiben wir, demonstrieren wir, schieben Welle und machen Kampagne, damit das alles endlich auch für Jungen und Männer besser wird. Aber nicht auf den Nacken von Frauen.

Bist du betroffen von (häuslicher) Gewalt? Hier bekommst du Hilfe!


Wenn wir von Frauen und Männern sprechen, beziehen wir uns auf strukturelle gesellschaftliche Rollen, die weiblich und männlich gelesene Personen betreffen. Gleiches gilt für die Adjektive »weiblich« und »männlich«. In Statistiken und Studien, die wir zitieren, wird leider oft nur zwischen Frau und Mann differenziert.

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Bildquelle: Pinkstinks Germany e.V.