Magersucht und GNTM: Studie jetzt als Open Source-Buch im Netz!

Dr. Maya Götz vom Bayrischen Rundfunk macht Studien zum Kinder- und Jugendfernsehen. 2015 war ihre, mit der Essstörungstherapie-Organisation ANAD, durchgeführte Studie zum TV-Konsum von magersüchtigen Mädchen in allen Medien: Zwei Drittel der Patientinnen hatten ausgesagt, dass „Germany’s next Topmodel“ einen großen bis sehr großen Einfluss auf die Entstehung ihrer Essstörung gehabt hätte. Gunther Klum und Pro7 zuckten nur mit den Schultern; die von uns daraufhin geforderte Prüfung der Sendung durch die Kommission für Jugendschutz ergab die saloppe Antwort, dass GNTM nun einmal die Modewelt spiegele, in der Kinder heute aufwachsen. Außerdem, hieß es, sei die Studie nicht ausführlich in Buchform zu erhalten.

Nun, liebe Pro7, liebe KJM, das Buch ist da. Die Studienergebnisse ausführlich aufgelistet, illustriert mit Bildern von Betroffenen und graphisch professionell gestaltet. Jede*r kann das Buch als Open Source beziehen, das war Maya Götz und ANAD sehr wichtig. Zur Veröffentlichungsfeier in München waren Betroffene, Therapeut*innen für Essstörungen und prominente Professor*innen zum Thema geladen.

„Wir wissen noch immer nicht, warum manche Frauen und Mädchen durch eine Diät in eine Essstörung rutschen, andere nicht“, sagt Prof. Dr. Stephan Herpertz, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen. „Es gibt Mädchen, die sind nach einem Jahr so tief drin, dass wir nicht mehr an sie ran kommen, bis zu 15% sterben an der Krankheit.“ Dringend wären mehr Forschungsgelder nötig, aber die Magersucht (im Gegensatz zur Bulimie) spricht nicht auf Psychopharmaka an. Wo die Pharmaindustrie keinen Gewinn sieht, gibt es auch kein Geld. Dabei ist die Magersucht noch immer eine der häufigsten Todesursachen im Kindes- und Jugendalter.

„Jede Frauenzeitschrift beinhaltet die Kerneigenschaften einer Essstörung“, erklärt Prof. Dr. Eva Wunderer, Professorin für Psychologie in Landshut. „Eine Diät (obsessive Beschäftigung mit der Figur), ein paar Rezepte (obsessive Beschäftigung mit Essen), zum Schluss ein kleiner Psychotipp.“ Solange die Modeindustrie an der Unsicherheit von Frauen profitiert und diese durch Werbung intensivieren kann, ist der Kampf gegen Essstörungen ein schwerer. Die Schauspielerin Heidy de Blum, selbst ehemalige Betroffene, erklärt den Gästen der Veranstaltung in verschiedenen kleinen Szenen, warum Essstörungen eine naheliegende Suchtform für junge Mädchen sind, die keine adäquaten Antworten auf die vielfältigen Anforderungen ihrer Lebenswelt bekommen:

 

Gerade in der Identitätsfindung der Pubertät treffen Aussagen wie die von Modelanwärterin Jüli (GNTM 2015) auf fruchtbaren Boden. Die schlanke, große Jüli gibt wiederholt in der Sendung an, als Kind aufgrund ihrer Figur gemobbt worden zu sein, dann hätte sie abgenommen und nun sei sie glücklich. „Du kannst so stolz auf dich sein!“, sagen ihre Model-Kolleginnen, Jüli strahlt. In einer Welt, in der jegliche Verwirrung, wer und wie man sein möchte, die Lösung „Diät, schlank sein“ präsentiert bekommt, ist es kein Wunder, dass sich noch immer so viele Kinder um ihren Körper sorgen. Und, um es gleich vorweg zu nehmen: In Deutschland sind um die 13% der Mädchen untergewichtig, nur ca. 10% übergewichtig. 78% sind normalgewichtig.

Der Abend treibt Tränen in die Augen. Pro7 wird die Studie nicht weiter interessieren, Heidi Klum selbst hat einen geschätzten BMI von 16,8, darf aber als Vorbildmama Mädchen erzählen, dass sie sich nur etwas mehr anstrengen müssten, dann „könnten sie es schaffen“. Ein Foto zu bekommen von einer Frau, die sich 57% der Mädchen, die GNTM schauen, als Mutter wünschen (92% der 16-Jährigen Mädchen in Deutschland schauen GNTM), weil sie zuhört, anspornt und die Mädchen ermutigt, „ihr Glück zu finden“.

Glück ist in der medialen Welt, geliebt zu werden, nicht, sich selbst zu lieben. Lieben soll sie eine Welt, die nur durch die Unsicherheit von Konsument*innen funktionieren kann. Das ist pervers. Hoffnung machten an diesem Abend die Stimmen von Frauen, die es geschafft hatten, aus den Fängen des Hungern und / oder Kotzens zu entfliehen, um mit ihrer Wut auf diese krankmachende Welt auf die Bühne oder in die Soziale Arbeit zu gehen. Dort motivieren sie andere, mit der Faust auf den Tisch zu hauen und ihren Körper zurück zu fordern. Dazu passt übrigens hervorragend das letzte Video unserer Youtuberin Lu Likes, die fremder Bewertung ihres Körpers entgegenschleudert: „Digga! Alles meins!“

Stevie Schmiedel