Mary Barbour: Mit Kinderwagen gegen Zwangsräumungen

Frauen haben im Laufe der Geschichte nur brav gekocht und gebacken? Von wegen! Ein Beispiel ist Mary Barbour. Sie lebte Anfang des 20. Jahrhunderts in Glasgow und zettelte einen Mietstreik an, der die Wohnsituation eines ganzen Landes verbesserte. Ihr ziviler Ungehorsam ist der Beweis für die Macht der Gemeinschaft und dafür, dass Aktivismus ein wichtiges Mittel gegen Ausbeutung ist. Eine starke Frau, deren Geschichte zeigt: Es gab durchaus auch einflussreiche Heldinnen – sie finden nur selten im Mainstream statt. Deshalb schreibt Pinkstinks-Autorin Jessica Wagener in ihrer Kolumne „Frauengeschichten“ über faszinierende Menschen mit erstaunlichen Storys.


Als sich die Türen des weißen Lieferwagens öffnen und die beiden Männer nach gut acht Stunden freikommen, brandet Applaus in der Menge auf. Anwohner*innen der Kenmure Street in Glasgow verhindern im Mai 2021 durch Protest und Blockade die Abschiebung zweier Nachbarn und bringen die Regierung und London zum Nachgeben. Hier mehr Details:

Warum ich das schreibe?
Die Protestierenden in der Kenmure Street wurden als „die Erb*innen Mary Barbours“ bezeichnet:

Auch die Arbeiterin Mary Barbour wehrte sich vor gut 100 Jahren in Glasgows Süden gemeinsam mit ihren Nachbar*innen gegen Ungerechtigkeit. Damit löste sie eine Bewegung aus und half, neue Rechtsprechung auf den Weg zu bringen, die die Lebenssituation vieler Menschen verbesserte.

Was können Frauen schon ausrichten? 

In Europa wütete 1915 der Erste Weltkrieg; die meisten Männer waren an der Front. Die Suffragetten hatten ihren Kampf für das Frauenwahlrecht vorübergehend eingestellt. Die Folgen der Industrialisierung waren überall zu sehen: Umweltverschmutzung, Urbanisierung, Wohnraummangel, Verelendung.

Glasgow war damals ein Zentrum für Schwerindustrie und Schiffbau. Die soziale Ungleichheit war stark ausgeprägt. Wohnraum war knapp, Vermietung war Privatsache. Deshalb konnten Vermieter*innen die Mieten erhöhen, wie sie wollten. Mietende zahlten oder mussten ausziehen. Die in Glasgow üblichen sogenannten „Tenements“ (Mehrfamilien-Mietshäuser mit kleinen Wohnungen) waren extrem überbelegt und oft in desaströsem Zustand. Dass sich 30 Menschen eine Toilette teilten, war keine Seltenheit. Weil diese Umstände jedoch die ärmere Bevölkerungsschicht betrafen, interessierten sich die Mitglieder der Mittel- und Oberschicht nicht dafür. 

Das war die Welt, in der Mary Barbour lebte.

Mary wurde am 20. Februar 1875 im Dorf Kilbarchan als drittes von sieben Kindern geboren. Ihr Vater war Teppichweber. Auch Mary arbeitete in der Textilbranche. Im Alter von 21Jahren heiratete sie den Schiffbauer David Barbour und zog mit ihm in den Arbeiter*innen-Stadtteil Govan im Süden Glasgows.

Durch den Kriegsausbruch 1914 war die Nachfrage nach Munition, Schiffen und Maschinen enorm gestiegen und hatte für einen Zustrom von Arbeiter*innen nach Glasgow gesorgt; Stadtteile in der Nähe von Werften oder Fabriken waren heillos überbevölkert und selbst die heruntergekommensten Löcher wurden vermietet. Prima, dachten sich die Vermieter*innen, dann können wir die Mieten noch erhöhen. Angebot, Nachfrage, der Markt regelt das. Wenn jemand nicht zahlen kann, zieht halt jemand neues ein. Außerdem waren viele Männer, wie erwähnt, an der Front. Übrig waren vor allem Frauen – und was sollten die schon ausrichten?

Eine ganze Menge, wie sich herausstellen sollte. 

Mary Barbour war schon vor 1915 politisch interessiert und Mitglied der Kinning Park Co-operative gewesen – Teil einer Genossenschaftsbewegung und Arbeiter*innen-Organisation. Doch als die Vermieter*innen Anfang 1915 das letzte bisschen Geld aus den Menschen herauspressen wollten, die Mieten um sagenhafte 25 Prozent erhöhten und deshalb etlichen Familien die Obdachlosigkeit drohte, wurde Mary zur glühenden Aktivistin. 

Mitte Februar trafen sich Frauen aus Marys Viertel, um zu beratschlagen, was sie unternehmen könnten. Mary Barbour wurde Vorsitzende der „Hausfrauen-Wohnungsgesellschaft“. Deren Idee, die Zahlung der Mieterhöhung schlicht zu verweigern, verbreitete sich in ganz Glasgow. Besonders in Arbeiter*innenvierteln wie Govan oder Partick unterzeichneten die Anwohner*innen entsprechende Petitionen. 

Planungstreffen fanden in Wohnungen, Waschküchen oder Hinterhöfen statt. Wer sich ein Klo teilt, kennt sich – und vernetzt sich leichter. 

Mit Kinderwagen gegen Zwangsräumungen

Es folgte der Sommer des zivilen Ungehorsams. In den Fenstern hingen „Wir ziehen nicht aus“-Schilder. Wann immer Verwalter*innen oder Gerichtsvollzieher*innen Miete kassieren, eine Räumung durchführen oder die Streikenden vertreiben wollten, trafen sie auf erbitterten Widerstand. Mary war aktiv in die Organisation eingebunden und stellte sich auch selbst Zwangsräumungen in den Weg.

Die „Hausfrauen-Wohnungsgesellschaft“ besetzte leere Wohnungen mit Streikposten und hinderte Neumieter*innen am Betreten. Wenn sich Verwalter*innen, Gerichtsvollzieher*innen oder die Polizei näherten, schlug eine Frau Alarm – mit Glocken, Trommeln, Tröten oder Pfeifen. Alle anderen Frauen in der Nähe rannten los, um das Treppenhaus unzugänglich zu machen. Berichten zufolge bewarfen sie Gerichtsvollzieher*innen mit Mehlbomben oder fanden andere Wege, sie zum Rückzug zu zwingen.

Die Protestbewegung rund um Mary Barbour wuchs immer weiter. „In Govan war eine Frau vom Verwalter überredet worden, die Mieterhöhung zu zahlen, nachdem er ihr gesagt hatte, dass die anderen Mieter gezahlt hätten. Mrs. Barbour brachte die Männer in den Werften von Govan dazu, mit ihr zum Büro der Hausverwaltung zu kommen. Dann ging sie mit anderen Frauen hinauf und forderte die Rückgabe des Geldes“, beschrieb Marys Mitstreiterin, die Suffragette Helen Crawfurd, einen Vorfall. „Als der Verwalter in die verrußten Gesichter tausender Arbeiter in den Straßen blickte, rückte er es heraus.“

Der Politiker und Abgeordnete Willie Reid schilderte die Macht der Vernetzung in der Zeitung Glasgow Evening Times damals so: „Einer Soldatenfrau wurde ein Räumungsbescheid zugestellt, mit der Warnung, dass, wenn sie ihr Haus nicht bis 12 Uhr mittags räumen würde, Beamte des Sheriffs kommen und ihn vollstrecken würden. Das Streikkomitee wurde aktiv. Es wies jede Mutter im Bezirk mit Kleinkind an, um 11 Uhr da zu sein – komplett mit Kinderkarren. Schon lange vor dem Mittag war die Straße voll mit Kinderwagen, in jedem saß mindestens ein Kleinkind. Kein Trupp hätte in die Nähe des Hauses kommen können…“ Aus der Zwangsräumung wurde nichts.

Kein Wunder, dass der Gewerkschafter Willie Gallagher die Protestierenden als „Mrs. Barbour’s Army“ bezeichnete.

Frauen und Aktivismus 

Dass Mrs. Barbour’s Army so aktiv und engagiert war, hatte auch gesellschaftliche Hintergründe. Frauen wurden im 18. und 19. Jahrhundert weitgehend von Teilhabe, öffentlichem Einfluss und Bürgerrechten ausgeschlossen (mehr dazu hier). 

Das heißt aber keinesfalls, dass sie sich nicht energisch eingebracht hätten.

Sie organisierten sich auf lokaler Ebene und griffen dabei laut den Historikerinnen Esther Breitenbach und Valerie Wright auf bestehende Netzwerke der Suffragetten und anderer Bewegungen zurück. Neue Formen des Aktivismus entwickelten sich, alltägliche Beziehungen und Begegnungen wurden politisiert. 

Triumph für Mary Barbour und die Streikenden

Im Oktober 1915 fing die britische Regierung an, sich wegen des Mietstreiks und der Unruhen ernsthaft Sorgen zu machen. Bei einem Treffen mit Mietervertreter*innen deuteten sie an, dass es zu Arbeitsniederlegungen in den Munitionsfabriken kommen könnte. Hört im Krieg keine Regierung gern. Inzwischen befanden sich über 20.000 Familien in Glasgow im Mietstreik, der Protest weitete sich auf andere Landesteile aus. 

Mitte November mussten achtzehn Mietstreikende, viele davon Werftarbeiter, vor Gericht erscheinen, um zu begründen, warum sie nicht zwangsgeräumt werden sollten. Mary Barbours Hausfrauenkomitee organisierte einen Marsch zum Gerichtsgebäude. Während Tausende Frauen mit Trommeln, Pfeifen und Plakaten los stiefelten, legten Tausende Werft- und Industriearbeiter ihre Arbeit nieder und schlossen sich an. Die schiere Größe des Protests sorgte für erhebliches Unbehagen. Nach ausgiebiger Beratschlagung wurden die 18 Mietstreikenden vom Haken gelassen. Die britische Regierung gab dem öffentlichen Druck nach: Im Dezember 1915 trat das Mietbegrenzungsgesetz (Rent Restriction Act) in Kraft. Es fror die Mieten für die Dauer des Krieges und ein halbes Jahr danach auf Vorkriegshöhe ein.

Die Wohnsituation in Glasgow und anderen industrialisierten Städten änderte sich damit allerdings nicht sofort; noch bis in die 1960er und 1970er Jahre gab es Menschen, die im Elend hausen mussten. 

Trotzdem war es ein Triumph für Mary Barbour, ihre Mitstreiter*innen, die Mietstreikenden und Mietenden in ganz Großbritannien. Aber es war auch ein Erfolg für Frauen, wie Helen Crawfurd in ihren Memoiren schrieb: „Dieser Kampf hat Massen von Frauen zusammengebracht.“ 

Vom Aktivismus in die Politik

Mary Barbour selbst machte nach dem Ersten Weltkrieg den Schritt vom Aktivismus in die Politik. 1920 wurde sie als Kandidatin der Labour-Partei in den Stadtrat von Glasgow gewählt. Sie setzte sich für die Belange von Arbeiter*innen ein – für Gesundheitsversorgung, Waschhäuser, Spielplätze. Und für Glasgows erste Stelle für Familienplanung: die Glasgow Women’s Welfare and Advisory Clinic. 1931, mit Mitte 50, beendete sie ihre offizielle politische Laufbahn, blieb aber in diversen Komitees aktiv. Mary Barbour starb 1958 im Alter von 83, ihre Beerdigung fand in ihrem Viertel Govan statt. Besonders dort gilt sie bis heute als Vorbild. Seit 2018 erinnert eine Statue an ihr Engagement.

Frauen, vor allem Arbeiter*innen, mussten für alles – jedes Recht, jede Chance, jede Verbesserung ihrer Lebensumstände – erbittert kämpfen. Genau das haben sie getan. Die Geschichte von Mary Barbour zeigt, dass Menschen zusammen etwas bewegen und wir uns gegen Ungerechtigkeiten wehren können – mit Vernetzung, Protest und Blockaden, mit Empathie, Solidarität und Sichtbarkeit. So, wie bei der Verhinderung der Abschiebung in Glasgow im Mai 2021. An diesem Tag waren übrigens auch Frauen mit Kinderwagen in der Kenmure Street, ganz im Geiste Mary Barbours. Oder wie jemand sagte: „Sie haben sich mit der falschen Stadt angelegt.“

Bibliographie und weiterführende Links:

Breitenbach, Esther and Wright, Valerie, ‚Women as Active Citizens: Glasgow and Edinburgh c.1918-1939‘ in Women’s History Review 23.3 (2014), pp. 401-420.

Glasgow’s Women’s Library, ‚Meeting Helen Crawfurd through her own words‘, https://womenslibrary.org.uk/2018/01/24/meeting-helen-crawfurd-through-her-own-words/ [31. Mai 2021]

Hunt, Karen, ‚The Politics of Food and Women’s Neighborhood Activism in First World War Britain‘ in International Labor and Working Class History 77.1 (2010), pp. 8-26.

Remember Mary Barbour, https://remembermarybarbour.wordpress.com/about-the-campaign/ [31. Mai 2021]

Revolutionary Socialism in the 21st century, https://www.rs21.org.uk/2015/06/12/1915-glasgow-rent-strike-how-workers-fought-and-won-over-housing/ [30. Mai 2021]

Women’s History Scotland, http://womenshistoryscotland.org/2015/12/24/centenary-of-glasgow-womens-rent-strikes/ [30. Mai 2021] 

Bildquelle: Bookpluscoffee.