Etwas über zwei Jahre ist es jetzt her, dass vornhehmlich Frauen unter dem Hashtag MeToo ihre langjährige, ohnmächtige Wut über die sexualisierte Gewalt und die Übergriffe einflussreicher Männer entlang des Falls Harvey Weinstein entfesselt haben, um endlich nicht länger als Freiwild angesehen zu werden. Täter wurden benannt, Gerichtsprozesse angestrebt, Artikel und Bücher geschrieben und sich mit Opfern solidarisch erklärt. #MeToo hat einiges bewirkt. Aber das System ist unfassbar träge und renitent und – machen wir uns nichts vor – nachdrücklich frauenverachtend. #MeToo hat einen Backlash erfahren, der seinesgleichen sucht. „Zu überzogen“ und „zu laut“ wurde gerufen, „Falschbeschuldigung“ gebrüllt und auf 1001 Weise mehr oder meistens weniger klug darüber geschrieben, warum Männer nicht unter Generalverdacht gestellt werden sollten. Und Stück für Stück verleibt sich das Patriarchat wieder alles ein, was ihm mühsam abgerungen wurde. Der Comedian Louis CK, der vor seinen weiblichen Angestellten masturbiert hat, ist wieder auf Tour als wäre nichts gewesen und erzählt, die Frauen hätten damals leider einfach unklar ihre Ablehnung geäußert. Roman Polanski, der eine 13 Jährige unter Drogen gesetzt und vergewaltigt hat, gewinnt wieder Filmpreise. Über Woody Allen schreibt Deutschlandfunk Kultur angesichts des deutschlandweiten Starts vom neuen Film des geschätzt 80 Millionen Dollar reichen Filmemachers, #MeToo hätte seine Karriere zerstört.
Am Supreme Court der USA reibt sich Brett Kavanaugh die Hande, weil das FBI unter dem Druck der Zeitvorgabe von Donald Trump schlampig ermittelt hat und so ein Mann zum Obersten Richter ernannt wurde, der dafür denkbar ungeeignet ist.
Und Harvey Weinstein kauft sich mit 25 Millionen Dollar aus dem Vermögen seiner insolventen Firma aus dem Gröbsten raus, ohne selbst auch nur einen Cent bezahlen zu müssen.
Kaum jemand wurde verurteilt, gleichzeitig wird Aktivist*innen und Ankläger*innen vorgeworfen, das Klima zwischen Männern und Frauen zu vergiften. Obwohl es #MeToo ja gerade darum ging und geht zu zeigen, wie vergiftet das Klima seit so langer Zeit schon ist. Um diese Diskrepanz und die damit verbundene Problematik zu veranschaulichen, lohnt es sich, einen aktuellen Fall genau zu betrachten. Auch und gerade weil er als „nicht so drastisch“ eingestuft wird: Anfang Dezember berichtete Alex Bozarjian als Reporterin des lokalen US-amerikanischen Fernsehsenders WSAV über den Savannah Bridge Run. Das Ziel ist nah, die Teilnehmenden sind ausgelassener Stimmung und winken in die Kamera. Ein Teilnehmer schlägt der Reporterin auf den Hintern, sie starrt ihm fassungslos hinterher.
Die Folgen dieses Vorfalls sind bemerkenswert. Zum einen reagiert eine durch #MeToo sensibilisierte Öffentlichkeit. Der Fall wird verbreitet, Kolleg*innen erklären sich solidarisch, der Verantwortliche, Thomas Callaway, wird ermittelt. In Interviews gibt er sich reumütig und distanziert sich von seiner Tat.
Zum anderen fährt der Backlash hoch. Bozarjian wird vorgeworfen, „sich anzustellen“, zu übertreiben und dem Mann durch ihr Verhalten sein Privatleben und seine Karriere zu ruinieren, weil sie sich weigert, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Dabei sei es doch nur ein lächerlicher Klaps auf den Po.
„It’s not okay to help yourself to a woman’s body just because you feel like it… in order to make any kind of change, you have to be a little bit drastic. And you have to… chip away at this toxic culture that permeates our society.“ — @WSAVAlexB pic.twitter.com/tYsvu0uFiW
— CBS This Morning (@CBSThisMorning) 10. Dezember 2019
Hinzu kommen die Aussagen Callaways selbst. Er habe im Eifer des Gefechts gehandelt, eigentlich winken wollen, sie irgendwo am Rücken getroffen und nicht bemerken können, wo genau. Es hat jedoch den Anschein, dass Thomas Callaway lügt. Da ist nichts von einer Winkbewegung zu sehen. Calloway nimmt die Reporterin Alex Bozarjian ins Visier, sein Kopf senkt sich und er schlägt ihr aus vollem Lauf auf den Hintern. Alle haben es gesehen. Callaway distanziert sich damit nicht nur von der Tat, sondern von sich selbst als Täter. Und während sein Anwalt klarstellte, dass sein Mandant „ein liebevoller Ehemann und Vater ist, der sich sehr aktiv in seiner Gemeinde betätigt„, gab Bozarjian zu Protokoll, dass sie sich mit scheinbar „weiblicher Schuld“ herumplage, weil ihr wiederholt suggeriert worden sei, das Ganze wäre ihr Verfehlen. Kern der #MeToo-Problematik ist offenbar, dass wir uns nicht davon befreien können, vom Täter her zu denken. All die
Ist das wirklich nötig?
Der arme Mann.
Das ist doch auch schon so lange her.
Was soll denn jetzt aus seiner Familie werden?
Es ist doch nur ein/e (hier sexuelle Übergriffigkeit einfügen).
Das ruiniert doch sein ganzes Leben!
Sätze verschieben die Verantwortlichkeit vom Täter auf das Opfer. Unter dem Vorwand, sich gegen eine antiseptische, sexfeindliche Gesellschaft zu stellen, die Männer bei den kleinsten Vergehen an den Pranger stellt und mit Dreck bewirft, wird die Tat völlig aus dem Blickfeld genommen. In vorliegendem Fall hat ein Mann sich das Recht herausgenommen, einer Frau ungefragt auf den Hintern zu schlagen. Und zwar in voller Absicht. Niemand hat ihn gezwungen und ihm ist auch nicht die Hand ausgerutscht. Darüber müssen wir reden. Und über die Lügen. Denn #MeToo ist auch deswegen so wütend und unnachgiebig, weil kaum jemand bereit ist, Verantwortung für seine Taten zu übernehmen. Wie könnte das hier aussehen?
Ich bin so. Ich habe es für angemessen gehalten, der Reporterin auf den Hintern zu schlagen, weil sie eine Frau ist und ich meinen Lauferfolg feiern wollte. Eigentlich sehe ich mich nicht so, aber irgendwo dachte ich wohl, das sei mein Recht. Unabhängig davon, was an Konsequenzen auf mich zukommt, muss ich an dieses Thema dringend ran. Es tut mir leid, das hätte ich niemals tun dürfen.
Teile davon hat Callaway in seinem Statement bereits zum Ausdruck gebracht. Trotzdem mauert und lügt er wie so viele andere. Aus Furcht vor Konsequenzen. Aus Sorge um das eigene Wohlergehen und das seiner Familie. Seine Schutzbehauptungen resonieren mit dem überwältigenden Wunsch der Gesellschaft danach, sich mit derlei Unappetitlichkeiten nicht abgeben zu wollen und in dieser Gemengelage keine Entscheidung treffen zu müssen. Genau in diese Wunde gehören so viele Finger wie möglich gelegt. Denn es geht nicht um erzwungene Reue, um eine tränenüberströmte Beichte oder die Zerstörung von Männern. Auch nicht um Reparationsleistungen oder überdimensionierte Strafen. Sondern darum, die Opfer nicht auch noch durch Lügen zu erniedrigen und ihren Status zu untergraben. Es gibt sehr viel drastischere Fälle als diesen. Es gibt Fälle, bei denen Aussage gegen Aussage steht und sehr viel weniger eindeutig festgestellt werden kann, was passiert ist. Aber wenn selbst gute, verantwortungsvolle Männer, und da möchte ich Thomas Callaway einfach mal beim Wort nehmen, in einem Fall wie diesen lügen und sich herauszuwinden versuchen, was sagt das über die #MeToo Debatte aus?
Ich fürchte, dass wir immer noch am Anfang stehen.
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