Oberkörperfrei von Linus Giese

Oberkörperfrei

Gekürztes Kapitel aus dem Buch »Brüste. Eine Anthologie« von Linus Giese

»Welche BH-Größe hast du eigentlich?«, fragt Kalle mich am Tag, bevor uns beiden die Brust abgenommen wird. Ich kann seine Frage nicht beantworten. Ich beschäftige mich nicht damit, welche Körbchengröße ich habe. Für mich sind das nur irgendwelche Zahlen und Buchstaben, die auf, unter oder über – nicht einmal das weiß ich so genau – der Brust abgelesen werden. BHs kaufe ich deshalb äußerst ungern und möglichst selten. Irgendwann habe ich damit angefangen, mir nur noch Sport-BHs zu kaufen: Die gab es in S, M oder L und das waren Größen, bei denen ich mich wieder besser auskannte. 

Drei Tage nach meiner Mastektomie werde ich 35 Jahre alt. Mehr als 20 Jahre lang habe ich also mit einem Körperteil verbracht, von dem ich nicht einmal wissen wollte, wie groß es eigentlich ist. Meine Brüste fühlten sich für mich immer seltsam fremd an, als wären sie kein Teil von mir. Als ich ein Teenager war, wünschte ich mir oft, ich könnte mir die Brüste abschneiden, um wieder einen flachen – einen glatten – Oberkörper zu haben. 

Ich muss daran denken, wie schmerzhaft schön der letzte Kindheitssommer für mich gewesen ist, in dem ich noch oberkörperfrei ins Schwimmbad gehen durfte. Ich wollte sein wie mein Bruder, und wie die anderen Jungs. Einen Sommer später hatte sich mein Körper bereits so sehr verändert, dass er in einen Badeanzug gesteckt werden musste. Ich erinnere mich daran, wie ich mit zwölf Jahren noch ein allerletztes Mal nur mit Badehose bekleidet ins Schwimmbad ging. Ich erinnere mich an die bohrenden Blicke, die meine Brüste trafen – Brüste, die für mich selbst beinahe unbemerkt gewachsen waren. Die Blicke signalisierten mir, dass es sich nicht gehörte, was ich tat. Am Tag darauf kaufte ich mit meiner Mutter zusammen meinen ersten Badeanzug. Ich weiß noch genau, wie mir die Träger in die Schulter schnitten. 

Meine ganze Kindheit lang hatte ich das Gefühl, einen Meter entfernt von meinem Körper zu stehen und ihn beim Leben zu beobachten, als wäre es nicht wirklich mein eigener. Damals kannte ich den Begriff Dysphorie noch nicht, ich kannte nur die Scham, die ich angesichts meines sich verändernden Körpers empfand. Ich erinnere mich, dass ich – als ich im Sommer 2017 nicht nur darüber nachdachte, ob ich ein trans* Mann sein könnte, sondern auch darüber, ob ich als trans* Mann leben könnte – als Erstes anfing zu googeln. Ich suchte nach Erfahrungsberichten, nach Bildern, nach Informationen. Im Grunde suchte ich nach einer Art Anleitung, nach einem Ablaufplan, nach irgendetwas, das mir sagen würde, was jetzt zu tun war. 

Bei meiner Recherche fand ich heraus, dass es Binder gibt. Binder sind eine Art eng sitzender Sport-BH, der die Brust so komprimiert, dass sie flacher wirkt. Meinen ersten Binder kaufte ich mir in einem Sexshop – damals hat mich das Überwindung gekostet. Es fühlte sich für mich schambehaftet an, in einen Sexshop zu gehen – als wäre mein Binder kein »normales« Kleidungsstück, sondern etwas »Schmutziges«. Bei allem, was ich zu Beginn meines Coming-outs tat, hatte ich das Gefühl, zuerst eine Mauer aus Angst und Scham durchbrechen zu müssen. Nichts von dem, was ich tat, fühlte sich leicht oder selbstverständlich an. 

Ich erinnere mich an den Moment, als ich meinen Binder zum ersten Mal zu Hause anprobierte. Über den Binder zog ich ein T-Shirt, danach warf ich einen zögerlichen Blick in den Spiegel. Der Binder ließ meine Brust beinahe flach wirken, auch mein T-Shirt saß plötzlich ganz anders. Eine Welle der Euphorie erfasste mich. Ich drehte mich nach links und rechts, um diesen neuen Anblick von allen Seiten zu genießen. Ich habe mich nie besonders gern im Spiegel angeschaut, ich habe mich nie besonders wohl in meiner Kleidung gefühlt, vielleicht weil es immer eine Art Verkleidung gewesen war. Doch in diesem Moment vor dem Spiegel, da war ich wirklich da – vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben. 

Wenn ich über das Leben von trans* Männern schreibe, dann ist es mir wichtig zu betonen, dass dieses Leben ganz unterschiedlich aussehen kann. Es gibt trans* Männer, die Testosteron nehmen. Andere lassen sich die Brüste abnehmen oder entscheiden sich für einen Penisaufbau. Es gibt auch diejenigen, die nichts davon brauchen, um ein erfüll- tes und glückliches Leben führen zu können. 

Die meisten trans* Männer finden durch das Gefühl von Dysphorie heraus, welche Maßnahmen sie sich für sich wünschen – und welche nicht. Es ist also ihr Schmerz, der ihnen als eine Art Kompass bei ihren Entscheidungen hilft. Bei anderen ist es genau andersherum: Die Euphorie ist der Kompass, es ist die Freude an der Veränderung, der Wunsch danach, dass der Körper eine bestimmte Form haben oder das T-Shirt in einer bestimmten Art und Weise fallen soll. Manchmal ist es nicht leicht, Dysphorie von internalisierter Transfeindlichkeit zu unterscheiden: Wünsche ich mir wirklich eine Mastektomie oder lehne ich meine Brüste ab, weil sie von der Gesellschaft als etwas Weibliches wahrgenommen werden könnten? 

Deshalb ist es wichtig, dass Repräsentation immer auch bedeuten muss, trans* Männern ohne flache Brust Sichtbarkeit zu geben. Es muss deutlich werden, dass es nicht nur ein mögliches Leben als trans* Mann gibt, sondern endlos viele. 

In den Monaten nachdem ich begonnen hatte, Testosteron zu nehmen, verteilte sich mein Körperfett um. Meine Statur veränderte sich, anderen fiel auf, dass meine Schultern breiter wurden. Auch meine Brüste wurden kleiner, was ich daran merkte, dass ich mir neue Sport-BHs kaufen musste, weil die alten irgendwann nicht mehr passten. Zwischendurch fragte ich mich manchmal, ob mir das vielleicht schon reichen könnte. Brauchte ich wirklich noch einen operativen Eingriff? Könnte ich vielleicht einfach mit dem leben, was ich noch habe? Schaffte ich es, mein restliches Leben so irgendwie zu ertragen? Ich war mir lange Zeit unsicher. 

Die Gründe, die mich zögern ließen, sind vielfältig: Ich hatte Angst vor dem Eingriff, ich hatte Angst davor, dass es aufgrund meiner angeborenen Gerinnungsstörung zu Komplikationen kommen könnte. Die meisten Menschen landen eher unfreiwillig auf dem OP-Tisch: nach Verkehrsunfällen oder wegen schweren Erkrankungen. Ich haderte mit der Vorstellung, mich ganz bewusst für diesen Eingriff entscheiden zu müssen – für einen Eingriff, der sich nicht mehr rückgängig machen lassen würde. Ich glaubte nicht daran, dass mich eine Entfernung meiner Brüste männlicher machen würde – ich hatte nur die diffuse Hoffnung, mich nach der Operation wohler fühlen zu können in einem Körper, der mir mein ganzes Leben Angst gemacht hat, weil er mir so fremd gewesen ist. Gleichzeitig hatte ich Angst davor, dass die Entfernung meiner Brüste mich eben nicht glücklicher machen könnte – würde ich es im schlimmsten Fall vielleicht sogar bereuen? Es war kompliziert. 

Doch dann fuhr ich im Sommer vor drei Jahren ans Meer. Eine Woche lang wohnte ich in einem kleinen Häuschen mitten in den Dünen. In Flip-Flops spazierte ich Tag für Tag an den Strand und setzte mich mit einem Buch auf eine Bank in die Sonne. Statt zu lesen, beobachtete ich über mein Buch hinweg die Menschen um mich herum. Einige von ihnen lagen in Badeshorts auf ihren Handtüchern, andere spielten in kurzen Hosen und ohne T-Shirts Volleyball oder liefen ins Wasser hinein, um eine Runde zu schwimmen. Alles an ihnen wirkte so selbstverständlich. Sie strahlten so viel Selbstsicherheit, so viel Ruhe aus. Ich dagegen fühlte mich unwohl, unbeholfen, fremd und ausgeschlossen. Was ich in diesen Momenten spürte: Ich war vielleicht ein Mann, aber ich war anders als die anderen Männer um mich herum. 

Ich wünschte mir nichts so sehr, wie mit meinem Körper ins Wasser einzutauchen und mit ein paar Schwimmzügen ins offene Meer hinauszuschwimmen. Aber wie sollte ich schwimmen gehen? Ich wollte auf gar keinen Fall einen Badeanzug tragen, aber ich konnte auch nicht nur mit einer Badehose bekleidet ins Wasser rennen. Ich überlegte, mir ein T-Shirt über die Badehose zu ziehen, aber ich hatte Angst, dass das nasse T-Shirt meine Brüste nur noch mehr betonen würde. In meinem Kopf malte ich mir aus, wie ich mit dem an mir und meinen Brüsten klebenden T-Shirt wieder zurück zu meinem Sitzplatz ging und dabei von allen anderen angestarrt wurde – während ich darüber nachdachte, brannten meine Wangen vor lauter Angst und Scham. 

Es war schmerzhaft, in einem Körper zu leben, in dem mir der Rest der Welt verschlossen erschien. Es war die Diskrepanz zwischen der Realität und meiner eigenen Phantasie, die mir danach pausenlos präsent war: Egal, wie sehr ich mir wünschte, als Mann wahrgenommen zu werden, meine Brüste waren oft wie zwei Realitätsdämpfer, die mich daran erinnerten, dass das, was ich mir wünsche, nicht zwangsläufig auch von anderen gesehen und erkannt wird. 

Nach meiner Rückkehr hatte ich ständig das Gefühl, von anderen beobachtet zu werden. Beäugt. Beurteilt. Ich verlor den Spaß daran, meine bunten Hemden zu tragen. Ich kaufte meine Sweatshirts nur noch in Kleidungsgröße L,  damit ich meinen Oberkörper darin verschwinden lassen konnte. Wenn ich draußen unterwegs war, schob ich die Schultern nach vorne – immer bedacht darauf, dass andere Menschen meine Brüste nicht sehen konnten. »Das findet nur in Ihrem Kopf statt« ist einer der Sätze, die mein Therapeut mantrahaft für mich wiederholte. Schauten andere Menschen tatsächlich auf meine Brüste und zogen daraus irgendwelche Schlüsse oder war das lediglich meine eigene Befürchtung? Meine eigene Angst? Meine eigene Scham?

Wenn trans* Männer sich in Deutschland die Brüste abnehmen lassen wollen, benötigen sie dafür mehrere Dokumente: eine Behandlungsempfehlung von dem*der Therapeut*in und einen sogenannten trans* Lebenslauf. Ich legte zusätzlich noch einen Befundbrief meines behandelnden Endokrinologen und eine Behandlungsempfehlung meines behandelnden Psychiaters bei. Die Dokumente steckte ich in einen Umschlag, den ich an die Krankenkasse schickte. Die Krankenkasse schickte meinen Antrag auf Kostenübernahme weiter an den MDK (den Medizinischen Dienst der Krankenkassen). Ich hatte alles getan – jetzt konnte ich nur noch abwarten. 

Drei Wochen später holte ich die Kostenübernahme aus meinem Briefkasten. Ich öffnete den Brief, während ich noch unten im Hausflur stand. »Sehr geehrter Herr Giese, ich habe heute gute Nachrichten für Sie« – meine Hände fingen an zu zittern. Ich konnte es kaum glauben, drei Monate vor meiner geplanten OP hielt ich endlich meine Kostenübernahme in den Händen. Ich drückte den Brief an meine Lippen. Ich hab’s geschafft, flüsterte ich in das Papier hinein. 

Trotzdem bin ich nervös, als ich in meinem Bett liegend aus dem Krankenhauszimmer geschoben werde. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, aber als ich aus der Narkose aufwache, schreibe ich als Erstes meinem Therapeuten: »Ich bin glatt und glücklich«, steht in der E-Mail, die ich bis heute aufgehoben habe. 

Als ich nach der Mastektomie zum ersten Mal vor meinem Spiegel stehe, muss ich wieder an den Moment zurückdenken, als ich mich zum ersten Mal in meinem Binder sah. Der Anblick meiner flachen Brust löst eine überwältigende Flut an Gefühlen aus und diese Flut ist bis heute nicht versiegt: Ich höre nicht auf, mich über diese flache Brust zu freuen, dafür dankbar zu sein, sie anzuschauen, anzufassen und zu fotografieren. Wenn ich mich selbst im Spiegel betrachte, dann kann ich mich mittlerweile erkennen. Die flache Brust hat mich vollständig gemacht. Ich bin jetzt voll und ganz hier. Noch während ich im Krankenhaus liege, bestelle ich zahlreiche Hemden. Ich habe das Gefühl, sie endlich tragen zu können. 

Meine flache Brust hat mir so viele neue Möglichkeiten eröffnet: das erste Mal als Erwachsener mit nacktem Oberkörper schwimmen gehen, das erste Mal mit nacktem Oberkörper auf der Wiese im Freibad liegen, das erste Mal mit nacktem Oberkörper Pommes kaufen. Jedes Mal, wenn ich mir nach dem Duschen ein Handtuch um die Hüften wickle, durchfluten mich Glücksgefühle. Wenn ich in der Sommerhitze am Herd stehe und ohne T-Shirt koche, fühle ich mich plötzlich anmutig und schön. Meine flache Brust gibt mir auch die Möglichkeit, im Sommer oberkörperfrei zu schlafen. Vorher schlief ich immer in einem T-Shirt, auch bei hochsommerlichen Temperaturen, weil ich den Anblick meiner Brüste nicht ertrug. Erst als die Brüste ab waren, meldete ich mich wieder auf einer Datingplattform an: Ich wünschte mir Menschen, die ihre Hand auf meine flache Brust legen würden. Es ist so lange her, dass ich berührt wurde, ohne mich zu sorgen oder zu fürchten. 

Als ich letztes Jahr an Weihnachten alte Kinderfotos digitalisiere, stoße ich auf eines von mir, auf dem ich blaue Shorts trage und einen nackten flachen Oberkörper habe. In der Hand halte ich einen Fußball. Am meisten berührt mich aber mein Lächeln: befreit und offen lächle ich in die Kamera. Obwohl ich manchmal mit der Zeit hadere, die ich verloren habe, weiß ich gleichzeitig auch, dass ich niemals wieder das Kind von damals sein werde. Aber das Lächeln von damals: Das hole ich mir zurück. 


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Bildquelle: PINKSTINKS