Papa lief zum Weinen immer weg: Wie Anıl lernte, ein richtiger Mann zu sein

Es ist Spätsommer 2006 in Mittelhessen. Die Welt ist zu Gast bei Freunden und verfolgt gespannt die Fußball-WM, während ich das erste Mal in meinem Leben umziehe. Wie so oft werde ich dazugerufen, um meinem Vater dabei zu helfen, irgendetwas zusammenzubauen, dieses Mal einen neuen Schrank, den wir auf dem Flohmarkt gekauft haben. 
„So, jetzt versuch du es mal“, fordert mich mein Vater erwartungsvoll auf. Ich soll irgendwelche Schrauben in den Schrank drehen, und dabei darauf achten, dass nicht alles zusammenfällt. Nach dem vierten Versuch gebe ich ernüchtert auf, mein Vater schäumt vor Wut und sagt: „So etwas musst du als Mann können, sonst respektiert dich keiner. Und jetzt geh weg, dich kann ich hier sowieso nicht gebrauchen!“ 
Ich drehe mich um, laufe die Treppen runter und suche meine Mutter, ich weine. Ich möchte umarmt werden, sie tröstet mich mit den Worten: „Du kennst deinen Vater.“ 

Ja, ich kenne meinen Vater. Sein Bild von Männlichkeit hat meines geprägt. Ich merke das noch immer in ganz gewöhnlichen Alltagssituationen.

Zum Beispiel, wenn ich in Berlin in meinem Lieblingscafé am Kottbusser Tor sitze. Die Sonne scheint für Anfang Mai besonders hell auf die grauen Kreuzberger Betonfassaden. Ich bestelle wie gewöhnlich einen großen Schwarztee, nehme voller Vorfreude einen Schluck, setze die Tasse schnell wieder ab und greife panisch nach der Wasserflasche, die immer griffbereit in meinem Rucksack liegt. 
Eigentlich weiß ich, dass der Tee immer zu heiß ist, wenn ich ihn bekomme und ich kurz warten sollte, bevor ich ihn trinke. Aber der Drang war auch diesmal zu groß. Ich wollte ihn trinken, wie man ihn trinkt: heiß, schnell und ungekühlt. Ohne mit der Wimper zu zucken. Ohne Gefühle oder Irritation zu zeigen. So kannte ich das, so wurde es mir beigebracht – von einer Gesellschaft, die auf starre Männlichkeit fixiert ist.

Credit: privat

Seit knapp vier Jahren wohne ich in Berlin und bin gern in Kreuzberg. Hier leben Menschen, deren Einwanderungsgeschichte die Umgebung geprägt hat und die bis heute das Viertel ausmachen.
Auch mein Vater ist in den Achtziger Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen, um sich ein anderes Leben zu ermöglichen. Er war politischer Aktivist und floh, aus Angst und weil er keine andere Wahl hatte. Während des Militärcoups drohten ihm und seinen Freunden Folter und Verfolgung. 

In Deutschland angekommen, lernten sich meine Eltern irgendwo zwischen Hessen und Nordrhein-Westfalen kennen. Mein Vater war Türkischlehrer. Er war engagiert in SPD und Gewerkschaft, gutaussehend, hatte Ausstrahlung und vor allem viel zu sagen. Es gab eine Zeit, in der es für Parteien und Gewerkschaften nützlich war, seine Nähe zu suchen und mit ihm gesehen zu werden. Er war die personifizierte gelungene Integration. 
Aber als türkische Familie hatten meine Eltern es in den Neunziger Jahren schwer. Das zeigte sich, als wir eine kleine Wohnung suchten. Nach vielen Versuchen wurde mein Vater zur Besichtigung eingeladen. Wir zogen unsere besten Klamotten an, mein Vater kämmte mir trotz meiner Locken sorgfältig das Haar, damit es nicht zu „komisch“ aussah. Wir klingelten, eine alte Dame machte die Tür auf und fragte verwundert: „Wer sind Sie?“
Mein Vater antwortete selbstsicher: „Wir sind Familie Altıntaş. Wir hatten heute Vormittag telefoniert.“ – „Nein, das kann nicht sein. Ich erwarte eine Lehrerfamilie.“ Mein Vater entgegnete: „Wir sind die Lehrerfamilie.“ – Die alte Dame schaute uns verdutzt an und während sie bereits die Tür schloss, sagte sie zu uns: „Die Wohnung ist schon vergeben.“ 

Das war das erste Mal, dass ich meinen Vater als Mann wahrnahm, als Beschützer, der sich vor meine Familie stellt.

Der Entscheidungen ganz allein in die Hand nimmt. Mein Vater erzählte uns diese Geschichte oft, denn sie hat ihn geprägt. Sie zeigte ihm, dass er noch härter kämpfen musste, um für seine Familie da zu sein. Um Angst, Unwissen und blankem Rassismus zu begegnen, denen wir als Familie ausgesetzt waren. 
Mein Vater erzählte auch von abschätzigen Blicken beim Einkauf im örtlichen Rewe und von weißen Menschen, die ihm erklärten, warum „seine Kultur“ hier nicht hinpassen würde. Er lernte, dass er hart im Nehmen sein musste. 
Wie das eine Mal, als er von einem Lehrerkollegen als „Kümmeltürke“ beschimpft wurde. Seine Kolleginnen und Kollegen griffen nicht ein. Mein Vater erstattete Anzeige. Er sagte das nicht, aber ich wusste: Das tat ihm weh. Ich spürte seinen Schmerz. Mein Vater ist sensibel. Er hat in jungen Jahren Dinge erlebt, die ich mir kaum vorstellen möchte. Vor mir und meinen Schwestern war er immer darauf bedacht, keine Schwäche zu zeigen. In emotionalen Momenten flüchtet er lieber vor uns, damit wir nicht sehen, dass er weint. 
In meiner Jugend hatte das einen großen Einfluss auf mich. Mann sein hieß für mich, meine Meinung nicht zu verstecken, hart zu sein und auch so zu reden. In der Öffentlichkeit zu weinen, vermied ich besser.

Dazu kam ein weiterer Aspekt, der mein Mannsein definierte und den mein Vater ebenso gut kannte: Orientalismus.

Als Grundschüler war ich daran interessiert, mit meiner Schwester Seilspringen zu spielen, Barbies zu frisieren und das Maniküre-Set meiner Mutter auszuprobieren. 
Dann wechselte ich zum Fußball. Wie alle anderen Jungs in meinem Alter spielte ich beim örtlichen Verein. Ich war ein Durchschnittsspieler, fiel eigentlich nicht auf. Trotzdem brüllten die Zuschauerinnen und meine Trainer mir begeistert Zuschreibungen aufs Spielfeld. An manchen Tagen war ich der ungehaltene, temperamentvolle „Türke“ auf dem Platz, den es zum Wohle der Mannschaft zu bändigen galt, an anderen das „kreative Element“, das man brauchte, um im Spiel erfolgreich zu sein. Ich sollte „Dampf machen“ wie „auf dem Bosporus“, das „Wilde“ in mir war an diesen Tagen für die Mannschaft hilfreich.
Aber ob ungezügelter Wilder oder kontrolliertes Chaos: Was da in mir steckte, konnte nicht deutsch sein. Beim Fussball war mir das damals egal. Später irgendwann nicht mehr. 

Credit: privat

Als ich zum Studieren nach Berlin zog, wurde mir bewusst, dass die Fremdzuschreibungen auf mich tropfen wie klebriger Honigsirup aufs Baklava.

Sie wurden ein Teil von mir. Jeder dachte, ich sei Muslim, heimatliebend und Erdoğan-Anhänger. Dabei war ich das alles nie. Ich war ohnmächtig, aber nicht überrascht. Ein Großteil der Rhetorik kommt aus der historisch gewachsenen, westeuropäischen Darstellung des wilden, mysteriösen „Orients“, der im Gegensatz zum zivilisierten und rationalen Okzident steht. Das schrieb schon Edward Said. 
Selbst in der Liebe, die ein Zufluchtsort sein sollte, war ich vor den Zuschreibungen nicht sicher. In Beziehungen zu Frauen war ich der „Leidenschaftliche“, der Dinge „anders“ mache: überschwänglich, animalisch, fremd. „Ich würde so gerne Türkin sein“, sagte mir eine Ex-Freundin einmal. Sie tanzte gerne zu Oriental Beats und fand die türkische Kultur „einfach schön“.
Mal war ich ein Tier, mal Liebhaber, aber immer Objekt sexueller und gesellschaftlicher Exotisierung. Immer öfter versuchte ich, das zu verkörpern, was ihnen gefiel und verstellte mich dafür – bis ich mir selber fremd wurde. Aber nie war ich gut genug. 
Frauen sagten mir, dass sie nur was Kurzes mit mir möchten, weil ihr deutscher Freund ihnen nichts gebe. Auf die Frage, warum sie sich keine Beziehung vorstellen konnten, sagten sie, dass sie mit mir keine „Sicherheit“ hätten.

Auch heute begleitet mich das alles noch. Es formt mein Bild von Männlichkeit.

Meine Geschwister haben bereits Kinder. Wenn ich nach Hause fahre, um meine Neffen zu sehen, sagen meine Eltern: „Bald ist es auch bei dir so weit. Du freust dich doch bestimmt auch schon drauf.“ Sie sind in ständiger Vorfreude auf ein Enkelkind und das geregelte, gesicherte Leben, für das sie so lange gekämpft haben. Ich antwortete meist auf Türkisch: „Bakalım“, wir werden sehen.
Seit ich in Berlin lebe, sehen wir uns nicht mehr so oft, vielleicht drei bis vier Mal im Jahr. Den Rest der Zeit verbringen sie in der Türkei. Sie wissen nicht, was ich in Berlin mache, wie ich meine Nächte verbringe und wie ich mich verändert habe. Wie ich gelernt habe, was es heißt, als Mann privilegiert zu sein, mein Bild von Männlichkeit zu hinterfragen, über Sexismus nachzudenken und ganz einfach gesagt: zuzuhören. Das mag an meiner Politisierung liegen, an den Gesprächen mit meinen Geschwistern und meinen besten Freundinnen. 

Besuche ich meine Eltern, ist meist wenig Zeit zum reden. Freunde und Bekannte kommen vorbei und es wird heißer Schwarztee serviert. Oft helfe ich meiner Mutter, trage den Tee ins Wohnzimmer und schenke ihn für die Gäste ein. 
Noch vor Jahren hätte mein Vater gesagt, dass ich mich hinsetzen soll: Das macht Mama. Mittlerweile sagt er nichts mehr. Ich habe ihn mal gefragt, warum. Mein Vater sah mich an und dachte kurz nach. Er sei nun einmal so erzogen worden: Der Mann charakterisiert sich dadurch, Frauen Befehle zu geben und sein Wort zu halten. 
Dann sagte er: „Gut, dass du das kannst, denn als Mann musst du auch wissen, wie man Tee macht, sonst respektiert dich keiner.“ Bestelle ich heute Schwarztee, warte ich, puste ein wenig und gebe viel Zucker rein. Dann trinke ich meinen Tee so, wie ich es immer wollte: lauwarm und langsam. 

Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag von Fikri Anıl Altıntaş und erschien erstmals bei bento.