Seit ich Kinder habe, nein eigentlich seit ich selbst ungefähr 10 Jahre alt war, begleiten mich verschiedene Versionen eines Ausspruchs, der mir keine Ruhe lässt:
Mädchen sind reifer als Jungen. Mädchen werden schneller erwachsen als Jungen. Mädchen sind verantwortungsbewusster als Jungen.
Als Jugendlicher habe ich das kaum bis nie hinterfragt. In den unterschiedlichen gemischtgeschlechtlichen Gruppen, in denen ich mich aufgehalten habe (Klassenverband, Theater AG, Sportverein, Jugendreisegruppe etc.), wurden Mädchen im Durchschnitt immer als „die Vernünftigeren“ angesprochen. Diejenigen, die sich um das Wohlbefinden und die allgemeine Stimmung der Gruppe kümmern sollten. Dabei ging es wohlgemerkt nicht darum, Gruppen zu führen, sondern darum, Gruppengespräche zu protokollieren, bei Auseinandersetzungen zu vermitteln, aufgeheizte Stimmungslagen bei schwerwiegenden Essensentscheidungen im Zeltlager zu entschärfen oder Tätigkeiten zu übernehmen, die eigentlich einem Jungen übertragen wurden, der sich dann aber aus verschiedensten Gründen weigerte, sie auszuführen. Jungen waren die, die ausflippten, ausbrachen, sich verweigerten oder nicht mitmachten. Mädchen waren die, die beruhigten, ausglichen und zu funktionieren hatten. Die das Fundament dafür bildeten, dass in gemischtgeschlechtlichen Gruppen An- und Absprachen überhaupt möglich waren.
Aber je länger ich mich mit diesem Phänomen beschäftige und je mehr ich derlei Zusammenhänge in den Lebenswelten meiner eigenen Kinder beobachte, desto mehr frage ich mich, was das eigentlich heißen soll: Mädchen sind reifer als Jungen. Was bedeutet das? Wofür steht es? Was wird dadurch impliziert? Mittlerweile habe ich gelernt, dass es für diese Annahme durchaus wissenschaftliche Belege gibt. So beginnt die cerebrale Reorganisation von Synapsen hin auf ein Erwachsenengehirn bei Mädchen durchschnittlich im Alter von 10-12, bei Jungen jedoch erst zwischen 15 und 21 Jahren. Neuronale Langverbindungen, durch die wir in der Lage sind, komplexe Sachverhalte aufzunehmen und abzuspeichern, bilden sich also höchstwahrscheinlich zu geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Zeiten. Darüber hinaus ist das Gehirn von Jungen während der Pubertät weniger stark durchblutet als das von Mädchen. Dass die Durchblutung des Gehirns bei Erwachsenen signifikant geringer ist als bei Kindern, ist schon länger bekannt. Aber dass es hierbei in der Spätpubertät zu deutlichen Unterschieden zwischen Mädchen und Jungen kommt, weiß man erst seit einigen Jahren und spekuliert seitdem darüber, inwieweit eine geringere oder bessere Durchblutung des orbitofrontalen Kortex als verantwortliche Hirnregion für Sozialverhalten und Emotionsregulierung das geschlechtsspezifische Verhalten beeinflusst.
Es spricht also biologisch einiges dafür, dass pubertierende Mädchen reifer sind als pubertierende Jungen. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist die, die für mich über die Jahre immer deutlicher geworden ist und mich immer mehr abstößt: Nämlich die Tatsache, dass die Sozialhygiene einer Gruppe, die Konfliktlösungsbemühungen und die Gesprächsbereitschaft Mädchen aufgrund ihres Geschlechts zugeschrieben und von ihnen erwartet wird. Mädchen sind einfach reifer als Jungen hat in diesem Zusammenhang durchaus misogynen Charakter.
Es schiebt einseitig Verantwortung zu und bestraft Mädchen und junge Frauen für unangepasstes Verhalten. Zum Beispiel für Wut, die sich nach außen gegen widrige Umstände und problematische Personen richtet. Die Gesellschaft erwartet von Frauen und Mädchen ruhiges, ausgleichendes Verhalten und reagiert mindestens irritiert, wenn die Betreffenden anders reagieren.
Diese Konditionierung beginnt sehr früh und hat dann eben nichts mehr mit Biologie zu tun. Bereits im Alter von zwei Jahren sind Mädchen sozialer, kompetenter und selbstständiger als Jungen im gleichen Alter. Weil es von ihnen erwartet wird. Weil man sie darauf konditioniert und abweichendes, erratisches Verhalten nicht toleriert und modifiziert. Mädchen werden auf Kurs Richtung Kümmern, Verantwortlichkeit und Ausgleich gebracht. Zugleich wird Mädchen sind reifer als Jungen als Entschuldigung für unangemessenes Verhalten von Jungen herangezogen. Für Boys will be Boys. Für Wenn er dich ärgert, dann mag er dich vielleicht. Für ein ganzes Verhaltenssetting, dass wir mit Begriffen wie Rebell, Rowdy, Outcast, Genie, kleiner Racker, Raufbold, Haudegen und anderen bezeichnen. Mit Blick auf Geschlechtergerechtigkeit gibt es unzählige Gründe, warum ich diese Konditionierung ablehne. Die drei wichtigsten will ich kurz benennen:
Zum einen zahlt es auf die ganze Mental-Load-Problematik ein und etabliert Frauen als zwangsverpflichtete Kümmerin für Familie, Gruppe und Gesellschaft, die alles im Kopf haben und sich für alle zuständig fühlen müssen.
Zum anderen ist Mädchen werden früher reif als Jungen eine Art benevolenter Sexismus, der das Interesse älterer Männer an jüngeren Frauen und Mädchen scheinlegitimiert. Also nicht die Tatsache, dass erwachsene Menschen selbstverständlich Beziehungen eingehen können, die einen (großen) Altersunterschied überbrückt, sondern der Umstand, dass Männer Partnerinnen nach der „halbes Alter plus sieben“-Regel auswählen. Oder sich in Beziehungskonstellationen begeben, die die Autorin und Journalistin Alena Schröder mal „Der mittelalte Mann und das Mädchen“ genannt hat.
Und zuletzt die Verlogenheit der Inkonsequenz. Wenn Mädchen und Frauen sowohl aufgrund der biologischen Gegebenheiten als auch der gesellschaftlichen Vorgaben reifer, verantwortungsvoller und erwachsener sind, dann müsste es im Interesse aller liegen, ihnen mehr Macht zu übertragen. Mehr Führungsverantwortung, mehr Gestaltungsmöglichkeiten, mehr Kompetenz. Bezeichnenderweise wird Mädchen sind reifer als Jungen aber nie dazu herangezogen, um Mädchen mit mehr Autorität und Macht auszustatten, sondern immer nur, um sie einzubinden, zurückzuhalten und für Dinge verantwortlich zu machen, für die sie womöglich gar nicht verantwortlich sein wollen.
Mädchen sind reifer als Jungen ist ein vergiftetes Lob, das Mädchen und Frauen in die Pflicht nimmt, anstatt ihnen Möglichkeiten zu eröffnen. Damit der geschlechterungerechte Status Quo nicht angetastet wird und alles so bleibt wie es ist.
Bild: Unsplash
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