Schamlippen und Scheide. Etwas, wofür wir uns schämen sollen. Etwas, in das etwas hineingesteckt gehört – wie ein Schwert. Geht’s eigentlich noch rückständiger? Hoden heißen ja schließlich auch nicht Schambeutel.
Zum Glück entwickelt die Gesellschaft langsam ein Bewusstsein dafür, dass unsere Geschlechtsorgane weder schambehaftet sind noch ausschließlich für passive Penetration geschaffen wären. Dass sich da endlich etwas bewegt, zeigt sich zum Beispiel bei Schulbüchern. Mehrere Schulbuchverlage wie Klett, Cornelsen oder Westermann haben sich unlängst entschieden, weibliche Anatomie ausführlicher darzustellen und korrekt zu benennen.
Die Bio-Lehrerin Sina Krüger hat die veralteten Schulbuch-Darstellungen kritisiert und sagt im Interview mit der taz: „Wenn man glaubt, dass das einzige Organ, das für sexuelle Erregbarkeit zuständig ist, so groß wie eine Erbse ist, dann misst man dem eine ganz andere Bedeutung zu, als wenn man weiß, dass die Klitoris ein rund zehn Zentimeter langer Organkomplex mit Schwellkörpern ist.“
Und weil Sprache nachweislich unser Denken und unser Handeln prägt, sind nicht nur Abbildungen, sondern auch die richtigen Begriffe für weibliche Sexualorgane entscheidend. Denn nur so kann weibliche Sexualität befreit und enttabuisiert werden.
Worte sind mehr als Buchstaben
Kurz zur allgemeinen Erklärung: Die Vulva ist das, was außen zu sehen ist. Das Innere – also der Muskelschlauch, der (sofern vorhanden) zum Uterus führt – ist die Vagina.
Zwar sind Vulva und Vagina die lateinischen Begriffe für Scham und Scheide – aber da Latein eine tote und akademische Sprache ist, verbinden wir diese Worte nicht mit dieser Bedeutung. Es ist also 1000 Prozent weniger offensichtlich und macht deshalb tatsächlich einen Unterschied; quasi niemand denkt bei dem Begriff Vulva an Scham und Schande.
Statt Schamhaare kann man problemlos Intimhaar sagen – oder Flausch. Oder was auch immer gut klingt. Die Klitoris ist auch keine kleine „Erbse“ oder „Knospe“, sondern ein großes, komplexes, mächtiges Organ. Ihre Schwellkörper gehen tief in den Unterleib, deswegen kann sie auch von innen über die Vagina stimuliert werden. Und innere und äußere Vulvalippen klingen unendlich viel besser, angemessener und empowernder als große und kleine Schamlippen. Die Feministin und Sexualpädagogin Ella Berlin (Pseudonym) setzt sich außerdem seit 2011 für das Wort Vulvina ein – eine Kombination aus Vulva und Vagina.
Bye, Milchbrötchen-Mythos!
Auch extrem wichtig zu verstehen: Vulven sind nicht von Natur aus glatte, rosige, runde Milchbrötchen – wie sie beispielsweise in Pornofilmen vorkommen. Diese Darstellung legt den Fokus auf Jugendlichkeit und damit Fruchtbarkeit. Eine saubere, junge Vulva ist ein stylisches Konsumgut. Sie dient der cis-männlichen, patriarchalen Lust und Fortpflanzung. So eine Darstellung sterilibisiert und stigmatisiert weibliche und queere Sexualität.
Dabei sind Vulven unendlich unterschiedlich und absolut faszinierend! Es gibt schlicht keine „normale“ Form, keine DIN-genormte Ideal-Standard-Vulva. Die Künstlerin Hilde Atlanta zeigt mit ihren Illustrationen auf Instagram die erstaunliche Vielfalt von Vulven.
Mit dieser prachtvollen Diversität geht auch einher, dass Sex an sich eben nicht nur ein klinisch reiner, performativer Penetrationsakt ist. Sex ist schmierig und schwitzig und klebrig, Lust ist immer individuell. Manche Menschen können gar nicht genug Sex haben, andere haben null Interesse. Einige bevorzugen Penetration, andere lieben andere Arten der Stimulation.
Die Sterilisierung von Vulva, Vagina, Klitoris & Co. durch das vorherrschende Bild des rosa Milchbrötchens und dazu die Tabuisierung des weiblichen Geschlechts – deutlicher als mit „Schamlippen“ kann man da nun wirklich nicht werden – sind problematisch.
Denn dadurch soll Menschen mit Vulva ihre Sexualität als etwas für sie Nachteiliges, Schambehaftetes verkauft werden. Und wer sich für seine Sexualität schämt, hat theoretisch weniger Sex.
Das ist im Patriarchat vor allem deshalb wichtig, weil Menschen mit Gebärmutter durch Sex schwanger werden können und niemand (ohne DNS-Test) so genau wissen kann, von wem. Wenn aber Besitz, Macht, Geld, Titel etc. über die Nachkommenschaft und männliche Linie vererbt werden, war und ist es natürlich entscheidend, weibliche Sexualität zu kontrollieren. Wo käme der wohlhabende Patriarch denn hin, wenn gar nicht seine eigene Leibesfrucht, sondern die des Bauernsohnes von nebenan sein Anwesen erbt? Oder der Bauer, wenn sein Hof gar nicht an… und so weiter. Mit der Aufklärung im 18. und 19. Jahrhundert wurden Frauen zusätzlich vermehrt als minderwertige, schwächere, naturverbundene, irrationale und unzurechnungsfähige Wesen betrachtet, die es zu kontrollieren galt. Idealerweise über Sexualität, Besitz und gesellschaftliche Teilhabe.
Auf die Schamlosigkeit!
Eine Person mit Vulva, Vulvina und/ oder Gebärmutter, die also entspannt und im wahrsten Sinne des Wortes „Scham-los“ Sex hat, mit wem sie will, einfach weil’s ihr Spaß macht – das ist subversiv, radikal und gefährlich fürs patriarchale Machtgefüge. Mit anderen Worten: aus feministischer Perspektive dringend nötig.
Zusammengefasst: Nein, das Wort Scheide braucht niemand. Schamlippen und Scheide sind Bezeichnungen von vorgestern. Vulva ist das Äußere, Vagina das Innere; es gibt jedoch für beides auch den Begriff Vulvina. Da jedes weiblich Sexualorgan sehr individuell ist, kannst du’s allerdings auch Yoni, Cunnus, Möse, Ursel oder Horst nennen. Hauptsache, es fühlt sich gut und richtig an.
Hier könnt ihr euch unser Video zum Thema ansehen:
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Weiterführende Links und Infos:
- Taz-Interview mit Sina Krüger: https://taz.de/Biolehrerin-ueber-veraltete-Schulbuecher/!5830756/
- Vulvina-Blog von Ella Berlin: http://wordpress.ellaberlin.de/
- Instagram-Account von Hilde Atlanta: https://www.instagram.com/the.vulva.gallery/
- Dokumentation 3sat: Vulva und Vagina – neue Einblicke in die weibliche Lust
- Artikel ze.tt: Größte Vulva-Studie: Was die Wenigsten wissen
Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich gelesenen Personen betreffen. Wenn wir die Adjektive „weiblich“ oder „männlich“ benutzen, beziehen wir uns ebenfalls auf die stereotypische gesellschaftliche Verwendung der Begriffe.
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Bildquelle: Pinkstinks