Wie kann es sein, dass in einer 8. Klasse in Hamburg im Jahr 2022 ein Theaterstück namens „Drachenbürger“ aufgeführt wird, in dem unhinterfragt „Jungfrauen“ einem Drachen geopfert werden? Oder schlimmer: Warum reagiert der Theaterlehrer nicht auf die Mädchen in der Klasse, die sich weigern, das Stück in dieser Form aufzuführen?
Lotti, 13 Jahre und eine dieser Schülerinnen, erzählt hier vom Vorfall:
An unserer Schule führt unsere Klasse dieses Jahr ein Theaterstück auf. In diesem Stück geht es um Folgendes: In Drachenburg bedrängt ein Drache alle Drachenburger*innen. Am meisten unter dem Drachen leiden 17-jährigen Mädchen, denn jedes Jahr fordert der Drache ein Mädchen als Opfer, mit dem er spielt und sie anschließend vernascht. Dieses Jahr soll ein Mann mit dem Drachen kämpfen. Wenn der Mann den Kampf mit dem Drachen überlebt, bekommt er die Fürstentochter als Frau. Es kommt zum Kampf. Nachdem der Drache zwei seiner drei Köpfe verloren hat, hat der Mann (Giorgi) keine Kraft mehr. Den entscheidenden Schlag, der den Drachen tötete, machte Ofelja, eine der „Opfermädchen“. Obwohl Ofelja den Drachen umbringt, wird Giorgi als Held gefeiert.
Hier lässt Lotti bei Lara und Stevie ihre Wut raus: 3 Generationen an Feministinnen beraten sich.
Im Text sind sexistisch Sätze wie: „Werft das Weibsstück hinaus in die Gosse, damit sie sich austoben kann“ oder „Der ist ein Feinschmecker. Für den sind Weiber so wie Kaviar“. Sätze dieser Art gibt es im Stück eine Menge. Könnt ihr verstehen, dass wir dieses Stück nicht unkommentiert oder persifliert aufführen wollen?
Dieses Theaterstück wurde von unserem Lehrer ausgesucht. Wichtig ist, es gab keine Auswahl zwischen mehreren Stücken, sondern unser Lehrer bestimmte ein Stück, das wir spielen müssen. Der Grund von ihm, warum er uns keine Auswahl gegeben hat, ist, dass er ein Stück gesucht hat, in dem es viele starke Frauenrollen gibt. Die Frage ist, was versteht unser Lehrer unter „starken Frauenrollen“? Anscheinend Frauen, die in den meisten Hinsichten unterlegen sind und ständig auf ihr Äußeres reduziert werden.
In diesem Stück werden Frauen als „Zicke“ oder zum „Spielen“ und „Vernaschen“ dargestellt. Es wird ein schreckliches Rollenbild von Frau und Mann vermittelt. Ich verstehe nicht, wie es sein kann, dass heute noch so ein Stück in der Schule aufgeführt wird!
Der Sexismus in dem Stück, wurde im Klassenrat besprochen. Leider haben nur ganz wenige Schüler*innen aus der Klasse den Sexismus und das altertümliche Männer- und Frauenbild gesehen. Wir, leider hauptsächlich ich, haben den Sexismus erklärt, doch wir mussten uns anhören: „Das war halt früher so“ oder „übertreibt doch nicht“. Nicht nur von unserem Lehrer, auch von Schüler*innen. Unser Lehrer meinte zu uns, dass die Mädchen sich doch wehren, damit sie nicht sterben müssen. Er hat aber nicht verstehen können, dass im Stück nirgendwo kritisiert wird, dass nur zwischen den 17-jährigen Jungfrauen und nicht den 17-jährigen Jungmännern (ach ja, den Begriff gibt es ja nicht!) ausgelost wird.
Ich habe dann den Vorschlag gemacht, wir könnten einfach alle 17-jährigen Menschen aus der Stadt in den Lostopf werfen, doch darauf wurde mir von meinem Lehrer erklärt, dass dann das Stück langweilig wäre und man es nicht mehr aufführen könnte. Und dass es mit den Beziehungen dann auch nicht mehr funktionieren würde. Wie kann es sein, dass ein Lehrer im Jahr 2022 noch so eine Einstellung hat? Das eine ist, dass unser Lehrer von allein nicht merkt, dass dieses Stück offensichtlich sexistisch ist. Doch das andere ist, dass er dann seinen Schüler*innen, die auf ihn zu kommen, noch nicht mal richtig zuhört und so tut als würden sie übertreiben.
Wir Schüler*innen sind die Zukunft, ziemlich krass, dass unsere Meinung dann so abgewiesen wird. Unser Lehrer hat stattdessen angefangen im Text ab und zu zu gendern, aus dem Fürsten eine Fürstin zu machen und die „Jungfrauen“ heißen jetzt nicht mehr „Jungfrauen“, sondern Mädchen. 17-jährige Mädchen, die heiraten können? Klingt in meinen Ohren falsch, ich finde das ziemlich herabwürdigend, denn diese „Mädchen“ waren historisch schon Frauen. Toll, dass er jetzt wenigstens aus dem Fürsten eine Fürstin gemacht hat und ab und zu gendert, nur bleibt die Geschichte dieselbe und ich finde es ziemlich verrückt, dass diese Änderungen erst nach unseren Einwänden geschahen, denn das sollte spätestens im Jahr 2022 selbstverständlich sein.
Mit diesen Änderungen kam er zu mir und hat mich gefragt, ob das Stück jetzt für mich okay ist. Ehrlich gesagt fühlte ich mich ein bisschen verarscht, da er mir damit deutlich gemacht hat, dass er nicht verstanden hat, worum es mir geht. Ich habe versucht, es ihm noch mal zu erklären, und da erklärte er mir ganz stolz, dass ein MÄDCHEN den entscheidenden Schlag macht (ein Mädchen! Am Schwert!) und den Drachen damit tötet und das wäre doch toll! Ich habe in diesem Gespräch z.B. auch „Schlampen“ angesprochen und meinte, dass ich möchte, dass wir ein anderes Schimpfwort im Stück verwenden. Er hat wieder nicht verstanden was daran das Problem ist. Ich habe ihm dann die Frage gestellt, ob er auch einen Jungen als „Schlampe“ bezeichnen würde. Darauf hatte er keine Antwort und er sagte nur zu mir, dass wir „Schlampe“ rausnehmen können und dass ich mir dann aber andere Schimpfwörter überlegen soll.
Ich finde es richtig doof, wie unser Lehrer mit unserer Kritik am Stück umgegangen ist. Ich hätte mir gewünscht, dass er uns richtig zuhört und entweder ein anderes Stück sucht oder, das Stück mit der Klasse so ändert und umschreibt, dass niemand mehr diskriminiert wird und dass dieses Stück kein altertümliches Männer- und Frauenbild vermittelt! Ist wirklich schon 2022?
Hier erklären Lara und Stevie Lotti, wie man als junge Aktivistin aktiv werden kann:
Über die Autorin:
Lotti lernte über das Video „Not Heidis Girl“ Pinkstinks kennen – da war sie elf Jahre alt. Heute ist sie dreizehn und hat eine klare Meinung zu Sexismus: Der muss weg. Wo sie kann, engagiert sie sich: Zum Beispiel, wenn in ihrer Schule ein Theaterstück aufgeführt werden soll, das vor Sexismus nur so strotzt. Für uns schrieb sie auf, wie manche Schulen 2022 noch ticken – und was sich ändern muss.
Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich gelesenen Personen betreffen.
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Bildquelle: peepo/iStock