Scientology und die Frauen

TW: Sexualisierte Gewalt, sexualisierter Machtmissbrauch, Vergewaltigung, Schwangerschaftsabbrüche, Homophobie, Suizid, Mord

Unser Autor Nils Pickert nimmt aktuelle Diskussionen um die Sekte Scientology auf Twitter zum Anlass, genauer hinzuschauen und die Machtstrukturen, die sich vor allem gegen Frauen richten, einmal mehr zu hinterfragen.

„Wo ist Shelly?!“
Seit Jahren wird diese Frage gestellt und ist bis heute nicht beantwortet. Shelly Miscavige ist die Ehefrau von David Miscavige, dem Chef der Sekte Scientology. Im August 2007 wurde sie zuletzt in der Öffentlichkeit gesehen. Seitdem fragt sich die Öffentlichkeit, was mit ihr geschehen ist – allen voran prominente Sektenausteiger*innen wie die Schauspielerin Leah Remini. Remini gab vor Jahren eine Vermisstenanzeige auf und wartet seitdem auf ein Lebenszeichen ihrer Freundin.

Aber Shelly Miscavige bleibt verschwunden. In der Vergangenheit gab es immer wieder Personen im Umfeld der Sekte, die der Öffentlichkeit angebliche Nachrichten über den Verbleib von Shelly Miscavige übermitteln sollten. Es gehe ihr gut, sie habe sich nur vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, weil sie ihre Kraft in Aufgaben innerhalb von Scientology stecken wolle. Dass diese „Nachrichten von Shelly“ wenig glaubhaft sind, liegt an dem Umgang, den die Sekte mit Frauen pflegt. Denn dieser Fall ist nicht der erste, der Fragen aufwirft. Es ist nicht einmal der erste fragwürdige Fall in der Familie Miscavige.

Im September 1985 wurde Mary Florence Barnett, die Mutter von Shelly Miscavige und langjähriges Mitglied von Scientology, tot aufgefunden. Barnett hatte aufgeschlitzte Handgelenke, drei Gewehrschüsse in der Brust und einen im Kopf. Trotzdem befanden die damals verantwortlichen Ermittler, dass es sich dabei um Selbstmord gehandelt habe. Auch ihr Schwiegersohn David Miscavige ließ keinen Zweifel aufkommen, dass es sich um Suizid handele. Zweifel sind jedoch mehr als angebracht. Nicht nur der angebliche Tathergang klingt bis zur Lächerlichkeit konstruiert. Das ehemalige hochrangige Scientology Mitglied Vicki Aznaran sagte später vor Gericht aus, David Miscavige habe den Tod seiner Schwiegermutter mit dem Satz „Die Schlampe hat bekommen, was sie verdient!“ kommentiert. Außerdem stimmte sie mit einem anderen ehemaligen Scientologen darin überein, dass Miscavige als damaliger Kronprinz von Sektengründer L. Ron Hubbard äußerst ungehalten über Barnett war. Den Angaben der beiden zufolge hatte sie eine eigene Splittergruppe gegründet und den Führungsanspruch ihres Schwiegersohnes offen in Zweifel gezogen. Derlei Widerworte stehen Frauen aber nach dem von Hubbard installierten Weltbild nicht zu. So schreibt er unter anderem zur Rolle der Frau:

Eine Gesellschaft, in der man Frauen etwas anderes lehrt als Familienmanagement, das Kümmern um Männer und Schöpfung der künftigen Generation, ist eine zum Scheitern verdammte Gesellschaft.

L. Ron Hubbard: Scientology – Eine Neue Sicht Des Lebens. Kopenhagen 2007

Die Sekte strotzt nur so vor Frauenverachtung – von ihren Wurzeln bis an die Spitze. Scientology zwingt immer wieder Frauen in den eigenen Reihen durch massiven Druck dazu, Abtreibungen vornehmen zu lassen.

Scientology ist homofeindlich. Immer wieder berichten Ex-Mitglieder wie Michelle Leclair von übergriffigen „Auditings“, die als Reaktion auf Outings stattfinden, um diese zu „korrigieren“. Homosexuelle werden dabei als widernatürliche Perversion der Natur dargestellt, die „leicht Aids bekommen“ und „Verbrechen sexueller Abartigkeit“ begehen.

Scientology hat Castings für potenzielle Ehefrauen des Schauspielers Tom Cruise abgehalten. Und Scientology vertuscht mutmaßlich Vergewaltigungen, indem sie Opfer einschüchtert. Aktuell steht der aus der Serie Die wilden Siebziger! bekannte Schauspieler Danny Masterson wegen mehrfacher Vergewaltigung vor Gericht. Masterson ist Scientologymitglied, seine Opfer ebenfalls. Während des laufenden Prozesses sagten zwei der Opfer aus, sie seien gestalked, belästigt und bestraft worden, als sie sich an die Polizei wandten. Man sagte ihnen, sie sollten das Wort Vergewaltigung nicht verwenden und hätten vermutlich etwas getan, um „es zu verursachen“. Auch hierbei handelt es sich anscheinend nicht um einen Einzelfall.

Warum ist das wichtig? Ist Scientology in Deutschland nicht einfach irgendeine unbedeutende Sekte mit 3500 Mitgliedern, deren Gebaren uns angesichts der altbekannten „Haben wir gerade wirklich keine anderen Probleme?“ Frage nicht zu interessieren brauchen? Nun, es handelt sich dabei immerhin um eine Sekte, deren Mitgliederzahl gerade wieder steigt und den Nachwuchs mittlerweile auch auf Datingplattformen rekrutiert. Außerdem versendet sie Materialien an Schulen über „Den Weg zum Glücklichsein“ und tritt immer wieder über Tarnorganisationen in Erscheinung, um schon Kinder zu beeinflussen.
Es handelt sich auch um eine Sekte, deren Aushängeschild Nummer Eins, Tom Cruise, gerade mit dem erfolgreichsten Film seiner Karriere das perfekte Marketing für Scientology macht.

Und nicht zuletzt ist es wichtig, weil wir immer genau hinschauen sollten, wenn geschlossene, intransparente Systeme mit mächtigen Männern, Hinterzimmern und eigenen Verhaltensregeln anhaltend von Gerüchten rund um Frauenfeindlichkeit und Gewalt umschwirrt werden. Wenn wir eines von der #MeToo-Debatte gelernt haben sollten, dann doch, dass wir in solchen Fällen als Gesellschaft nicht wegschauen dürfen. Und genau deshalb ist und bleibt die Frage:

Wo ist Shelly?!

Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen bzw. Männern und Jungs sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich und männlich gelesenen Personen betreffen. Wenn wir die Adjektive „weiblich” oder „männlich” benutzen, beziehen wir uns ebenfalls auf die stereotypische gesellschaftliche Verwendung der Begriffe.

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Bildquelle: unsplash, Alexey Taktarov