Ein junges, von Frauen geführtes Tech Start-Up macht sichtbar, wie ungleich verteilt Männer- und Frauenstimmen in Bewegtbildinhalten vorkommen. Wir haben sie gebeten, mithilfe ihrer Software erfolgreiche Werbeclips auf Diversität zu analysieren und – Überraschung – Männer haben in den Stichproben vier Mal mehr Redezeit als Frauen.
Wenn sich deine Bildschirmzeit in den letzten Wochen vervielfacht hat, bist du nicht alleine! Laut einer repräsentativen Online-Umfrage hat sich unser Medienkonsum seit dem Corona-Lockdown stark verändert – keine große Überraschung. Werbung, Filme, Serien werden wasserfallartig geklickt, gebinget und geteilt. Entertainment ist unser Wellness.
Aber was davon bleibt eigentlich bewusst oder unbewusst bei uns hängen? Hören und sehen wir immer genau hin, was passiert? Und fällt uns dabei auf, welche gesellschaftlichen Rollenbilder uns dabei präsentiert werden? Dass wir beispielsweise viel häufiger von Männerstimmen durch die Werbung geführt werden, als von Frauen?
Damit Erkenntnisse wie diese nicht nur vage Bauchgefühle bleiben, arbeitet ein Start-Up aktuell daran, die Symptomatik dahinter sichtbar zu machen. Ceretai wurde Anfang 2018 mit der Idee gegründet, ein automatisiertes Tool zur Erkennung von Stereotypen in Popkultur und Medien zu entwickeln. Mit den daraus resultierenden Daten wollen die Gründerinnen ein Bewusstsein dafür schaffen, wie beispielsweise Frauen, BIPOC oder queere Menschen in Filmen, TV-Shows und anderen Kultur- und Medienprodukten dargestellt werden – oder eben gerade nicht dargestellt werden.
Matilda Kong und Lisa Hamberg haben mit ihrem Unternehmen Ceretai ein Tool programmiert, mit dem sie automatisiert belegen können, wie ungleich verteilt Männer- und Frauenstimmen in Bewegtbildformaten vorkommen. Aktuell arbeiten sie auch an einer technischen Erweiterung des Tools, das durch Gesichtserkennung und Textanalyse Informationen zu Alter und Ethnizität erstellen soll. Außerdem soll zukünftig ermittelbar sein, welche Rollen verschiedene Menschen haben und über welche Themen sie sprechen.
„Die automatisierte Diversitätsanalyse lässt uns Dinge sehen, denen wir sonst keine Aufmerksamkeit schenken würden“, erklärt Geschäftsführerin Matilda Kong. „Selbst wir könnten diese Ergebnisse beim Ansehen der Clips nicht vorhersagen, obwohl wir täglich damit arbeiten. Uns wird ständig bewusst, wie unbewusst voreingenommen wir alle sind.“
Wir wollten wissen, wie diese Analyse funktioniert. Also haben wir die beiden gebeten, die am meisten geklickten Stay Home-Werbeclips in den USA während der Pandemie (Stand 26.05.2020) auf Geschlechtergerechtigkeit zu untersuchen. Und das Ergebnis sah, wie zu erwarten war, finster aus.
Wertet man die Spots nach Zeit aus, in denen eine Stimme zu hören ist, lässt sich sagen: Zwei Drittel der Werbezeit ist geprägt von männlichen Stimmen, in gerade einmal 15% der Zeit sind Frauenstimmen zu hören. Männer sprechen also nicht nur vier Mal mehr als Frauen, auch gibt es in den gemessenen Werbespots faktisch mehr Stille als sprechende Frauen. Autsch!
Besonders interessant fanden wir außerdem, dass trotz der schlechten Sprecherinnenquote immerhin rund ein Drittel der sichtbaren Personen Frauen waren – zu Wort kommen sie aber trotzdem so viel seltener. Frauen sind also öfter stumm als Männer und scheinen in der Werbung deutlich stärker vor allem eine dekorative Funktion zu erfüllen.
Matilda Kong erkennt auch im Vergleich zu anderen Untersuchungen ein Muster: „Es ist bemerkenswert, dass selbst diese kurzen Werbefilme die Ungleichheit bestätigen, die wir in fast all unseren früheren Analysen gesehen haben – selbst wenn Frauen auf dem Bildschirm zu sehen sind, sind es die Männer, die eine Stimme haben dürfen.“
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