Söhne und ihre Väter

TW: Gewalt in der Kindheit

„Der Freund ist die Verbindung zwischen Vater und Sohn, er ist ihre größte Gemeinsamkeit.“ Diese Worte schreibt Franz Kafka am 11.02.1913 in sein Tagebuch. Es gibt wohl kaum jemand, der literarisch mehr an seinem Vater gelitten hat als Franz an seinem Vater Hermann Kafka. Dem er 1919 auch seinen berühmten Brief an den Vater schrieb und der ihn nie erreichte. Bei aller Vorsicht, die bei vorschnellen Bezügen von Kafkas Werk zu seiner Biografie geboten ist, scheint es sicher zu sein, dass Franz an diesem Vater, der ihn drohte „zu zerreißen wie einen Fisch“ sehr gelitten hat. An seiner Kälte, seiner Härte, seiner Zurückweisung und seinem Desinteresse. Aber auch andere Männer leiden an ihren Vätern. Als kleine Jungen, als Heranwachsende, mit über 40 mitten im Leben stehend. Hermann Kafka zum Beispiel an seinem Vater Jakob. Weil Gewalt so oft Gewalt gebiert und weil sich in der Eiseskälte vieler Vater-Sohn-Beziehungen nicht die Wärme aufbringen lässt, um es irgendwann an den eigenen Kindern besser zu machen, ist dieser Kreislauf fast nicht zu durchbrechen. Im Ozean der Gewalt werden immer noch viel zu viele Fische damit bedroht, in Stücke gerissen zu werden.

Oder sie werden tatsächlich zerrissen. Über den Satz, mit dem mein Zerreißen als Kind eingeleitet wurde, habe ich bereits geschrieben. Er lautete „Nimm die Hände runter!“ und war dazu gedacht, mich in einer möglichen Gegenwehr völlig zu demoralisieren, damit mir mein Vater nicht nur ungestört ins Gesicht schlagen, sondern auch meine Furcht vor ihm nähren konnte. Es ist einer der systemstabilisierendsten Mechanismen des gewalttätigen Patriarchats, Jungen und Männern einzureden, sie hätten etwas falsch gemacht, wenn ihnen Gewalt angetan wird. Sie wären nicht Manns genug gewesen, um das zu verhindern. Sie sollten darüber schweigen, weil es für Männer zu beschämend ist, zum Opfer gemacht worden zu sein. Genau aus diesem Schweigen gebiert sich die Hilflosigkeit und die Wut, mit der dann der nächsten Generation begegnet wird. Aus diesem Kreislauf auszubrechen, übersteigt die Kraft vieler Männer, weil sich in ihnen zu viel Gewalt, zu viel Verletztheit angesammelt hat. Obwohl sie es womöglich versuchen. Mein Vater ist ein gutes Beispiel für einen solchen Mann. Seine Hände haben nicht nur geschlagen, sondern auch gehalten, gestreichelt und getragen. Ich hatte die Wahl, die zärtlichen Aspekte seines Vaterseins gegen die brutalen zu wenden und auf meine eigenen Kinder die liebevolleren zu spiegeln.

Ich hatte die Wahl, die zärtlichen Aspekte seines Vaterseins gegen die brutalen zu wenden und auf meine eigenen Kinder die liebevolleren zu spiegeln.

Nils

Wir sollten viel mehr über diese zärtlichen Aspekte von Vaterschaft sprechen. Über Güte, Nähe, Liebe und Trost. Stattdessen hat sich in den letzten Jahren eine ziemlich abgefeimte Kritik an Mutterschaft angeschickt, die allmählich aufbrechenden Verhältnisse wieder einigermaßen zu verfestigen. Wahlweise wirft man Müttern vor, ihre Söhne zu verweichlichen und „zu Mädchen umerziehen zu wollen“ oder man beschuldigt sie, durch Feiern und Verwöhnen stereotyper Männlichkeit aus ihren Söhnen kleine Patriarchen zu machen, die die Mutter zwar ehren, aber alle anderen Frauen verachten. Das „Alles F*tzen außer Mutti“-Prinzip wird aber niemals zu einer geschlechtergerechteren, gewaltfreieren Gesellschaft führen, weil es auf dem Prinzip der Frauenverachtung mit einer Ausnahme basiert. Selbstverständlich trifft es zu, dass Frauen sich auch zu Komplizinnen des Patriarchats machen. Und es stimmt auch, dass manche von ihnen selbst Täterinnen sind. Strafen, missachten, Gewalt verüben.


Das ändert allerdings nichts an der grundlegenden Fehlannahme, die ganze Problematik müsste von Frauen gelöst werden. Was denn noch alles?! Wann sind eigentlich mal Männer dran und übernehmen Verantwortung für eine Gesellschaft, in der nicht zuletzt auch sie sich wohler fühlen würden? Das ist nämlich längst überfällig. Und es geschieht. Langsam, allmählich, Stück für Stück. Konservativen, „harten“ Männern, die die Beziehung von Präsident Biden zu seinem Sohn Hunter „unschicklich“ und „gruselig“ nennen, wird etwas entgegengehalten.

Und zwar durch Männer, die verstanden haben, dass toxische Männlichkeit sie ihres Vaters und ihrer Unversehrtheit beraubt. Die wissen, wie wichtig es für Männer ist, einander halten und lieben zu dürfen.

Die erkannt haben, wie fatal es für Männer ist, so lange cool sein zu müssen, bis sie in all ihren Schulterklopfern, Bro-Umarmungen und „No Homo!“-Sprüchen erfrieren.

Väter und Söhne können so viel mehr sein als das, was ihnen bislang zugestanden wird.

„Wie weit soll das noch gehen?!“, fragen diejenigen, die hinter jeder Zärtlichkeit unter Männern eine Verschwörung zur „Verschwulung der Welt“ vermuten. Ganz einfach: Weit genug. Bis an den Horizont unserer Rollenvorstellungen und darüber hinaus. Bis Väter Söhne nicht mehr als Konkurrenten um Macht, Jugend und sexuelle Gelegenheiten sehen, sondern als Verbündete in der Erschaffung einer friedlicheren, gerechteren, zärtlicheren Welt begreifen. Bis niemand mehr zerreißen oder zerrissen werden muss.
Bis Liebe.

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Bildquelle: Lindy Baker/Unsplash