Über Abtreibung reden: Brief an meine Tochter

Liebe Mimi,

es ist Freitagnacht, du schläfst schon längst, aber ich bin immer noch wach. Ich bin wach und so wütend, dass ich Dinge eintreten und laut schreien möchte. Ich habe dir erzählt warum: Heute wurde eine Ärztin von einem Gericht dazu verurteilt, eine Strafe zu bezahlen, weil sie Frauen darüber informiert hat, wie Medizinerinnen und Mediziner einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen und wer das in Deutschland macht. Das Gericht hat gesagt, sie hätte damit Werbung für Abtreibungen gemacht, um Geld zu verdienen. Dagegen gibt es ein Gesetz. Ich glaube, dass das gelogen ist und es dieses Gesetz nicht geben dürfte.

Aber als du gefragt hast, was Abtreibung genau bedeutet, hab ich ziemlich geschluckt und gesagt, dass ich das nicht so einfach erklären kann und dir stattdessen lieber einen Brief schreibe. Das kennst du schon von mir. Deswegen sitze ich jetzt hier und versuche, diese riesige Frage zu beantworten, für die ich und alle anderen Erwachsenen viel zu klein sind. Es geht um Leben und Tod und ob Gott damit etwas zu tun hat.  Darum, ob wir eine Seele haben und wenn ja, ab wann wir sie in uns tragen. Ob wir schon vor der Geburt wir sind und was das heißen soll. Und es geht darum, was Frauen dürfen und was nicht.

So ungefähr weißt du ja, worum es geht. Wie Sex funktioniert, wo die Babys herkommen, und dass man verhindern kann, schwanger zu werden. Du weißt, dass für manche Frauen die Schwangerschaft irgendwann einfach nicht mehr weitergeht, obwohl sie es sich so sehr wünschen. Und auch, dass es Frauen gibt, die nicht wollen, dass ihre Schwangerschaft weitergeht und sich Hilfe suchen, um sie zu beenden.

Du bist fast 13 – ich bin froh, dass du all diese Dinge weißt. Was du nicht weißt ist, wie sehr sich die Erwachsenen darüber streiten, ob das da im Bauch schon ein Mensch ist oder nicht. Es gibt nicht wenige Leute, die halten Abtreibung für Mord. Die sind davon überzeugt, dass eine schwangere Frau ein Kind mit einer Seele im Bauch hat, egal wie viel oder wenig sich die Zellen schon zu einem Kind entwickelt haben. Oft hat das mit ihrem Glauben an Gott zu tun und der Vorstellung, dass sie Gott verraten und nicht auf ihn hören würden, wenn sie eine Abtreibung vornehmen lassen, oder anderen erlauben, dies zu tun. Weil sich Gott mit der Schwangerschaft schon für das Leben eines neuen Kindes entschieden hat und der Mensch sich darum nicht dagegen entscheiden dürfen soll. Obwohl ich nicht viel von Gott halte, verstehe ich diesen Gedanken. Wenn man Gott von diesem Gedanken abzieht, dann bedeutet er, dass man sich nicht leichtfertig gegen Leben entscheiden sollte. Das ist zum Beispiel wichtig, damit auch Kinder mit Behinderung auf die Welt kommen können, und bei den Müttern nicht ganz selbstverständlich die Schwangerschaft abgebrochen wird, weil man sich ausmalt, wie schwierig und leidvoll alles werden wird. Wie du weißt, sind Menschen mit Behinderung genauso toll oder doof wie alle anderen auch.

Wenn man sich mit Menschen streitet, die gegen das Recht auf Abtreibung sind, dann hat man es oft ganz schön schwer. Weil man selber gar nicht so genau sagen kann, wann das da im Bauch schon ein richtiges Baby ist und wann nur ein Zellhaufen, während die anderen einfach behaupten können, dass das schon immer ein Baby war. Die brauchen da gar nicht lange drüber nachzudenken. Außerdem ist Abtreibung auch für die Menschen ein schwieriges Thema, die unbedingt dafür sind, dass Frauen das Recht haben sollten, ihre Schwangerschaft abbrechen zu lassen. Wie ich schon geschrieben habe: Niemand will das entscheiden müssen. Aber trotzdem stehen jeden Tag sehr viele Frauen vor genau dieser Entscheidung. Nicht nur in Deutschland sondern überall auf der Welt. Viel zu oft lässt man sie damit alleine und verbietet medizinische Unterstützung. Dann müssen sie sehen, wie sie zurechtkommen.

Sie tun sich dann selbst weh oder bitten andere, ihnen so weh zu tun, dass ihr Körper die Schwangerschaft von selbst abbricht. Manche vergiften sich sogar, damit das passiert. Zum Glück ist das in Deutschland nicht mehr so. Richtig gut ist es aber auch nicht. In Deutschland können Frauen zwar eine Abtreibung von Arztinnen und Ärzten vornehmen lassen, aber es ist nicht wirklich erlaubt. Es wird nur nicht bestraft. Stattdessen bestraft man eine Ärztin, die die Frauen auf ihrer Internetseite über Abtreibung aufklärt. Ich finde das verlogen und fies. Das heißt nämlich, dass man die Verantwortung auf diejenigen abschiebt, die Hilfe brauchen, und ihnen dann noch vorschreibt, was sie tun dürfen und was nicht. Das heißt, dass man die Frauen nicht nur im Stich lässt, sondern auch noch Forderungen an sie stellt. Man fordert das Bestimmungsrecht über ihren Körper, der doch allein ihnen gehört.

„Haha, jetzt haben wir dich erwischt!“ sagt man mir sonst immer, wenn ich so etwas schreibe. Und zwar weil ich dich liebe. Weil du mein Schatz bist und ich mir ein Leben ohne dich gar nicht vorstellen will. Wenn du nicht so nett zu mir gewesen wärst, hätte ich nie den Mut gehabt, noch mehr Kinder zu machen. „Aber dann bist du ja auch dafür, dass die Mama das Recht gehabt hätte, deine Tochter abzutreiben!“ sagen sie dann. „Dann gäbe es sie gar nicht.“ Das ist schwer auszuhalten, aber es stimmt. Ich bin auch dafür, dass meine Mama das Recht gehabt hätte, mich abzutreiben. Dann gäbe es mich nicht. Wer sowas sagt, versucht mich damit zu erpressen, wie wichtig du mir bist. Und dir will diese Person weismachen, dass du mir ja ganz schön egal sein musst. Das ist eine ziemlich hinterlistige Scheiße (Tschuldigung, ist mir so rausgerutscht)! In Wahrheit geht beides. In Wahrheit kann man seine Kinder über alles lieben und trotzdem für das Recht auf Abtreibung sein. Und wenn man sehr lange nachdenkt, kann man sogar dafür sein, WEIL man seine Kinder über alles liebt. Ich glaube jedenfalls, dass man sich in Situationen, die Menschen grundsätzlich überfordern, an das halten sollte, was man weiß. Und ich weiß, dass niemand außer dir das Recht hat, über deinen Körper zu bestimmen. Dieses Recht auf körperliche Selbstbestimmung gilt für alle Menschen.

Der Brief ist lang geworden und es schon sehr spät. Ich weiß nicht, wann du ihn lesen wirst, aber ich stelle ihn hierhin, weil du es mir erlaubt hast. Ich stelle ihn hierhin, weil mir nicht gefällt, dass viele so gar nicht darüber reden wollen. Und ich stelle ihn auch hierhin, weil ich im Internet Briefe gefunden habe, die Menschen im Namen von ungeborenen Kindern an die Frauen geschrieben haben, von denen sie finden, dass sie keine Abtreibung hätten machen lassen dürfen. Das ist wieder diese Erpressung. Ich kann dir gar nicht sagen, wie widerlich ich das finde. Als würde es diesen Frauen nicht schon schlecht genug gehen.

Im Gegenzug habe ich nicht einen einzigen Brief dazu von einem Vater an seine Tochter zu dem Thema gefunden. Ich weiß nicht, ob das alles für dich Sinn macht, mein Herz. Aber ich hab mir Mühe gegeben.

In Liebe
Papa