„Mein Vater hatte ein Sprichwort. Er sagte immer, dass man als Vater ein Erfolg ist, wenn man sich seinen Sohn oder seine Tochter anschaut und feststellt, dass das Kind besser ist als man selbst. Ich bin ein Erfolg. Ich bin ein verdammter Erfolg. Beau, ich liebe dich, ich bin so stolz auf dich.“
Diese Worte stammen von Joe Biden, dem ehemaligen Vizepräsidenten der USA und jetzigem Präsidentschaftskandidaten der Demokraten. Sie galten seinem Sohn Beau Biden, der wenig später mit nur 46 Jahren an einem Hirntumor starb.
Ich erzähle hier von Joe Biden und werde noch mehr über ihn erzählen, weil ich über Vaterschaft sprechen will und darüber, wie sehr sie verdächtig und verächtlich ist, wenn sie liebevoll und zärtlich ist, besonders gegenüber Söhnen. Nicht um seine Politik zu bewerten und auch nicht um den Präsidentschaftswahlkampf zu kommentieren. Sondern weil ich extrem wütend darüber und, ja, irgendwie auch verletzt bin, dass Vätern innige Beziehungen mit ihren Söhnen abgesprochen werden. Aber fangen wir von vorne an. Denn ich bin schon sehr viel länger wütend. Darüber, dass sich Menschen 2018 zum Beispiel ernsthaft „kritisiert“ haben, wie lange der Footballspieler Tom Brady seinen Sohn küsst, weil es angeblich „zu lang, unangenehm und unangemessen“ war.
Ähnliche Kommentare hatte es schon zuvor gegeben, als Brady und sein eigener Vater dabei gesehen wurden, wie sie sich küssten.
Zwar gab es auch Stimmen, die Brady verteidigten, …
… aber der Grundton war klar: Brady ist unnormal, irgendwie eklig und seltsam, so etwas macht Mann einfach nicht. Und jetzt also Joe Biden. Joe Biden, der sich mitten im Wahlkampf von einem politischen Kommentator implizit unterstellen lassen muss, seine innige Beziehung zu seinem erwachsenen Sohn Hunter sei nicht angemessen und gruselig.
Also reden wir über den Vater Joe Biden und darüber, ob innige Vater-Sohn-Beziehungen angemessen sind. Von seinen drei Kindern mit seiner ersten Frau Neilia ist Hunter der letzte Überlebende. Bidens damalige Frau und seine einjährige Tochter Naomi starben bei einem Verkehrsunfall, als sie einen Weihnachtsbaum kaufen wollten. Die beiden Söhne wurden dabei schwer verletzt. Biden, gerade frisch in den Senat gewählt, zögerte den Senatorenposten anzunehmen, weil er sich um seine Söhne kümmern wollte und tat schließlich beides: seinen Job und das Kümmern um seine Jungs. Einige Jahre später gesellte sich seine Tochter Ashley zu den beiden, die er mit seiner zweiten Frau Jill hatte.
Man kann also davon ausgehen, dass Joe Biden sehr genau um die Vergänglichkeit des Lebens und um den Wert von Familie weiß. Umso mehr als dass er 2015 ein weiteres Kind zu Grabe tragen musste. Als der Generalstaatsanwalt Beau Biden stirbt, nimmt nicht nur die Familie von ihm Abschied, …
… sondern das gesamte politische Amerika – über alle Parteigrenzen hinweg. Ein Vorgang, der so heute wohl nicht mehr möglich wäre. Stattdessen kommt nun 2020 die Frage, ob Joe und Hunter Bidens inniger Umgang miteinander „angemessen“ wäre. Und neben dem leider sehr üblichen homofeindlichen, toxische Männlichkeit feiernden, männerfeindlichem Mist, gab es auch sehr klare Worte darüber, wie gut es ist, wenn Väter ein inniges Verhältnis zu ihren Söhnen haben. Von Männern, die alles dafür tun würden, noch einmal so von ihrem Vater gehalten zu werden.
My father died when I was 16 years old. I’d give anything for him to be here now, holding me like this.
— Carlos Escondido (@CarlosEscondido) October 22, 2020
Von Rockbandfrontmännern, die klarstellten, wie wichtig Liebe und Zuneigung für Söhne sind.
Von Prominenten, die ihre Väter unendlich vermissen.
Von Soziologieprofessoren, die wissen, was Sache ist.
Das Beispiel von Joe Biden ist nicht deshalb bemerkenswert, weil er so ein unglaublicher Übervater ist, dessen Liebe zu seinen Söhnen an Schicksalsschlägen geschärft und vertieft wurde. Es ist vielmehr unglaublich, weil selbst diese Biografie Menschen nicht davon abhält, eine innige Vater-Sohn-Beziehung anrüchig, verdächtig und – nennen wir die Dinge beim Namen – irgendwie „schwul“ finden. Dabei können die Beziehungen zwischen vollkommen durchschnittlichen Vätern und Söhnen so wunderbar, so kostbar und so nah sein. Wenn wir sie denn lassen. Dann finden erwachsene Söhne an ihren Vätern männlich, „dass sie immer ein selbstbewusster, liebevoller Vater gewesen sind“. Und Väter können rückblickend bedauern, nicht noch mehr Zeit mit ihrem Sohn verbracht zu haben.
Dann sind sich Väter und Söhne Nahe Genug, um wirklich miteinander ins Gespräch zu kommen. Dann werden Väter endlich mehr sein können als „groß und stark“ …
… und keinen Schatten mehr auf das Licht ihrer Söhne werfen. Weil sie ein Erfolg sind, ein verdammter Erfolg.
Bildquelle: Pinkstinks
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