Verlorene Jungs

TW: Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen, Vergewaltigung

Meistens mache ich den „Männer dann auch endlich mal für Gleichberechtigung, Emanzipation und Feminismus begeistern“ Job ziemlich gerne. Er ist zwar zäh und anstrengend, aber das ist eine gute Sache, die mir liegt. Nur manchmal verzweifle ich an dieser Aufgabe, weil das Patriarchat einfach übermächtig erscheint.
Übermächtig gerade auch insofern, als es über einen eingebauten Selbstschutzmechanismus verfügt. Einer der wesentlichen Bestandteile klassisch-toxischer Männlichkeitsbilder, ist es nämlich, bloß nicht „zu viel“ über sich nachzudenken. Keine Verunsicherung zuzulassen, keine Verzweiflung. Kein Zögern, kein Zaudern, 120 Prozent geben – der übliche Mist eben. Deswegen ist ja die Midlife Crisis auch nahezu ein ausschließliches Männerproblem. Männer türmen Versäumnisse und Probleme Jahre und Jahrzehnte in ihrem Keller auf und betreten ihn nicht aus Furcht, es könnten Leichen sein, die auf sie fallen. Dabei handelt es sich um Dinge, für die man sich bei drölf Millionen Gelegenheiten Hilfe holen könnte. Nachsteuern. Verändern. Auflösen. Aber nein, der ganze Kladderadatsch, der sich so Leben nennt, wird durchgezogen bis Mann so richtig viel zu verlieren hat. Und dann ist es tatsächlich ein Zombiekeller, mit dem Mann fertig werden muss.

Apropos Zombiekeller: Mein momentaner Verzweiflungsgrund sind die pädokriminellen Verbrechen der katholischen Kirche, für die sich Männer irgendwie nicht so richtig zu interessieren scheinen. Zur Erinnerung: Die meisten Opfer von sexualisierter Gewalt und Folter (ich werde hier einmal mehr nicht den aus meiner Sicht verharmlosenden Begriff „Missbrauchsopfer“ benutzen) sind männlich. In vier von fünf Fällen handelt es sich um Jungen, während sie in anderen Institutionen weniger als die Hälfte der Opfer bilden. Die Taten waren und sind fast immer geplant. Sie finden in der Wohnung der Täter statt, in Schulen, in Kirchen vor oder nach dem Gottesdienst. Anschließend wurden und werden sie vertuscht und verharmlost. Opfer wurden und werden eingeschüchtert und zum Schweigen gebracht, Täter allenfalls gerügt und an neue „Wirkstätten“ versetzt, wo sie dann einfach weiter vergewaltigen. In Münster, wo ich mittlerweile lebe, ist kürzlich eine neue Studie vorgestellt worden. Alleine im Hellfeld geht man in den Jahren 1945 bis 2020 von über 600 Betroffenen aus. Die Schätzungen belaufen sich auf das Zehnfache. Flächendeckend habe der Missbrauch im Bistum Münster stattgefunden und sei vertuscht worden, um die Kirche zu schützen.
Die Studie beschäftigt sich ganz explizit mit den „spezifischen katholischen Ermöglichungsbedingungen“ :

Pastoralmacht
Vorherrschende Sexualmoral
Autoritätsstrukturen
Zölibat

Sie kommt dabei zu dem erwartbaren wie erschreckenden Ergebnis, dass „Viele viel wussten“ : Mitarbeitende, Laien, Verwandte, Bekannte. In einigen Fällen wusste faktisch das gesamte Heimatdorf von Betroffenen Bescheid, aber niemand schritt ein. Niemand begehrte auf. Niemand setzte dem ein Ende. In den schlimmsten Zeiten begingen Priester pro Woche zwei Sexualstraftaten an Kindern.

Aber wen interessiert das im „Wir waren mal Papst“-Land? Im Land einer Volkspartei, die das C im Namen führt und deren Mitglieder mehrheitlich der katholischen Konfession angehören? Hat wirklich irgendjemand den Eindruck, dass da ausreichend geschieht. Man muss in Deutschland schon in den Bereich Satire schauen, um öffentlichkeitswirksame, pointierte Kritik an den bestehenden Verhältnissen und den Verbrechen der katholischen Kirche zu finden – und auch da findet man sie nur, wenn man sehr genau hinschaut.

Aber eigentlich müsste sich der Bundestag damit befassen. Sagen wir zweimal wöchentlich. Das geschieht aber nicht. Und gesellschaftlich passiert auch viel zu wenig. Unter aller Augen werden da seit Jahren und Jahrzehnten Kinder vergewaltigt und gefoltert. Vor allem Jungen. Und jetzt könnten und müssten sie doch alle aufstehen wie ein Mann – die ganzen Typen, die mir unter jeden meiner Artikel über sexualisierte Gewalt an Frauen und Mädchen ihren Whataboutism in die Kommentare rotzen, was denn mit Männern und Jungen sei? Ja, was ist mit denen? Denen wurden und werden schreckliche Dinge angetan, lass mal darüber reden!

Lass mal Vereine gründen, Geld auftreiben, Spenden sammeln, Druck aufbauen, Politik machen und die Kirche endlich zur Verantwortung ziehen. Lass uns zweimal wöchentlich unseren CDU/CSU Abgeordneten wegen dieser Sache schreiben – und allen anderen auch. Aber Whataboutism-Guy hat gar keine Lust auf so etwas. Das ist ja alles viel zu anstrengend und viel zu real. Lieber degradiert er die ebenfalls viel zu reale Gewalt an Frauen und Mädchen zum Anlass, sich und seine Geschlechtsgenossen einmal mehr in den Nachteil gesetzt zu sehen. Außerdem passt das auch viel besser in sein Männlichkeitskonzept. Der Verein Gegen Missbrauch hat mal zusammengefasst, warum Jungen als Opfer sexualisierter Gewalt immer noch nicht anerkannt werden:

  • Opfer sexualisierter Gewalt zu werden, wird mit Schwäche und Ohnmacht in Verbindung gebracht. Jungen haben aber in ihrer Männlichkeit nicht schwach und ohnmächtig zu sein.

  • Jungen gelten als selber schuld, hätten sich wehren können und leiden vorgeblich nicht so stark unter den Taten wie Mädchen.

  • Jungen wollen angeblich immer Sexualkontakte.

  • Missbrauch an Jungen wird mit Homosexualität in Verbindung gebracht und Homosexualität wird gesellschaftlich abgewertet und ausgegrenzt.

Alle Amtsträger müssen zurücktreten“ fordert die Theologin Regina Ammicht Quinn und hat recht damit. Alle. Angesichts der Tatsache, wie viele Menschen aus dieser Institution heraus zerbrochen wurden, ist es vollkommen unerheblich, ob sie an diesem Prozess zerbricht. Aber es passiert zu wenig. Hier ist ein „Oha, es geht um uns, wir müssen etwas tun“ Moment für Männer, aber zu viele sitzen ihn aus. Mit ihren Kommentaren, was denn nun aber mit Männern sei, die sie unter Berichte über Vergewaltigung als Kriegswaffe gegen Frauen klatschen, fläzen sie sich vor diesen Ozean voller Gewalt gegen Jungen und Männern und tun nichts. Das war, ist und bleibt ein Grund zum Verzweifeln. Aber genau deshalb noch lange kein Grund zum Aufgeben.

Hilfsangebote für Überlebende von sexualisierter Gewalt und Missbrauch

Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen bzw. Männern und Jungs sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen. Wenn wir die Adjektive „weiblich“ oder „männlich“ benutzen, beziehen wir uns ebenfalls auf die stereotypische gesellschaftliche Verwendung der Begriffe.

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Bildquelle: unsplash Chris Liverani