Verzeihung, bitte.

ICE nach Berlin, ab Hauptbahnhof pickepacke voll, Frau (jung, schick, ich würde sagen: Marketingabteilung) hält am Tisch im Bordrestaurant einen Platz besetzt. Sie guckt nervös suchend aus dem Fenster bis sie ihren Kollegen, Ende 40, gutsitzender Anzug, erspäht. Sie springt auf, winkt ihn zu sich, setzt sich wieder, deutet auf den freien Platz. Er, ohne Begrüßung: „Also hier sitze ich bestimmt nicht.“ Er deutet Richtung Erste Klasse. „Wenn Sie bei mir sitzen wollen, dann da.“ Sie leise: „Dafür hab ich kein Ticket.“  Er zuckt die Schultern und geht.

So läuft das also. Bäm. Alle Unklarheiten bezüglich hierarchischer Zugehörigkeit in sekundenschnelle beseitigt. Ich erste Klasse, du nix. Ich sitze da wo die Luft kühler und die Tageszeitungen umsonst sind, keine Koffer rumstehen und die Sitze für meinen exklusiven Hintern breiter sind.

Sie steht auf, packt eiligst ihre Sachen zusammen und folgt ihrem Chefbesitzer einer Bahncard First. Ob sie den Aufpreis aus eigener Tasche bezahlt? Wie sie ihn wohl fragt, ohne ihre Würde zu verlieren, ob sie sich neben ihn setzen darf? Wie wird das darauf folgende Gespräch verlaufen? Wird sie sich ob der akzeptierten Demütigung schämen bis Berlin? Oder wird sie ihm Informationen abringen oder zustecken können, die die Herabsetzung im Nachhinein als zu schluckende Kröte rechtfertigen sollen?

Ich treffe einen Kollegen zum Lunch (so sagt man das bei uns), der in führender Position in einer Werbeagentur tätig ist. Er fragt mich, wie ich als alleinerziehende Mutter mit dem Vater des Kindes die Betreuungszeiten vereinbart habe. Ich erkläre, dass ich mich nicht als alleinerziehend begreife, weil der Vater sich zu einem großen Teil an Betreuung und Erziehung beteiligt, sich selbstverständlich an regelmäßige Betreuungszeiten hält und ich mich zusätzlich jederzeit auf ihn verlassen kann, wenn ich z.B. verreisen muss. Der Kollege bezweifelt, dass ihm dies in seiner Position möglich sei. Er könne noch nicht mal einen, einzigen festen Abend für seine Kinder garantieren. Er habe eine Kollegin, die sich ebenfalls nicht traut, als Mutter Freiräume einzufordern. Er würde sich ein Signal der Solidarität von der Kollegin wünschen, und auch von alle den anderen Familienvätern in Spitzenpositionen, dass er gefahrlos für seine Rechte als Vater eintreten dürfe.

Ein anderer Lunch. Der ebenfalls sehr weit oben führende Kollege erklärt mir, wie er mithilfe eines Coachs das Verhältnis zu einer weiblichen Kollegin zu klären versucht, die aktuell hierarchisch in der Lage ist, ihm das Leben zur Hölle zu machen. Seine Coach(*she) hat ihm, dem „alten, weißen Mann“ erklärt, das die Kollegin wegen vergangen Ohnmachtserfahrungen als Frau in der Branche, quasi eventuell traumatisiert ist und deswegen die im Patriachart gelernten Mechanismen gegen ihn anwendet. Er hat also beschlossen, ihr zu verzeihen, und seine Mitschuld an ihrem Verhalten, die er als Zugehöriger zum männlichen Geschlecht trägt, zu akzeptieren.

Ich habe daraufhin ebenfalls beschlossen, den beteiligten Frauen zu verzeihen. Ich verzeihe der Frau im Zug, die statt laut: „Leck mich“ zu sagen, einem ungehobelten Mistkerl hinterherläuft. Sie hätte sitzen bleiben können, sich ein Bier bestellen und mit dem Globetrotter an ihrem Tisch über Bali Urlaube plaudern. Und ihrem Chef beim anschließenden Termin nonverbal durch eine fröhlich vorgetragene Alkfahne die absolute Verachtung für sein Verhalten zeigen können.

Ich verzeihe der Kollegin des getrennten Vaters, die, obwohl sie weiß, was es bedeutet mit Kindern in Vollzeit tätig zu sein, nicht einmal danach fragt, wie er das neue Leben denn nun zu managen gedenke und wie man als Team dafür sorgen könne, dass die Kinder die Trennung nicht ausbaden müssen. Ich verzeihe auch seiner Ex-Frau, die sich offensichtlich nicht in der Lage befindet, im Namen ihrer Kinder dem Mann einen festen Abend abzutrotzen.

Ich verzeihe auch der Coach, dass sie einen Verdacht als Persönlichkeitsdiagnose verkauft, ohne die krisenauslösende Chefin überhaupt zu kennen. Ich verzeihe ebenfalls der eventuell absolut nicht traumatisierten Chefin, die einen älteren, weißen Kollegen tyrannisiert. Denn eventuell fehlt ihr die Fähigkeit zur Selbstreflexion, dass es genauso auch alte weiße Frauen gibt. Und zwar einige.

Ah. Da fällt mir ein. Ich bin ja selbst eine. Eine weiße, alte Frau in privilegierter Position. Vielleicht sollte ich lieber meine Klappe halten.