Viagra ist keine Lösung

Ok, damit hätten wir rechnen müssen. Letzte Woche über die Orgasmuslücke zu schreiben, hat offensichtlich ähnliche Folgen wie dreimal hintereinander Beetlejuice zu sagen: Wenige Tage später flatterte uns „Das beste Weihnachtsgeschenk für kräftige Männer“ in den Posteingang.

Screenshot aus unserem Posteingang

Potenzpillen also. Sicher, anonym, schnell – mit Lieferung nach Deutschland. Interessant, dachten wir, vielleicht sollten wir uns dazu mal auf den neuesten Stand bringen. Gibt es die inzwischen rezeptfrei? Für wen ist die Werbung gemacht? Und wie groß ist der Hype eigentlich heute? Tatsächlich ist Viagra selbst gar nicht mehr so angesagt. Für den Wirkstoff Sildenafil, der in der kleinen blauen Pille von Pfizer steckt, lief ab 2010 in vielen Absatzmärkten der Patentschutz aus, was entsprechende Nachahmerprodukte auf den Plan rief. Bis zu diesem Zeitpunkt waren lediglich illegale Fälschungen erhältlich, mit denen Profite aus dem Viagra-Hype geschlagen werden sollten. Denn ein Hype war es. Nach der Zulassung in den USA 1998 beherrschte das Produkt über eine Dekade einen bis dahin eher fraktalen Markt, in dem horrende Summen für kaum oder gar nicht wirksame Produkte bezahlt wurden. Diese Zahlungsbereitschaft kam Pfizer zugute: Über 1,8 Milliarden Pillen wurden von etwa 37 Millionen Männern eingenommen. Und damit wurden gut 24 Milliarden Dollar Umsatz gemacht. Das Produkt war so erfolgreich, dass der Kunstbegriff Viagra auch heute noch ein Synonym für Potenzpillen ist – selbst wenn sie nicht mehr blau und von Pfizer sind. Auch die Zielgruppe hat sich im Laufe der Jahre erweitert. Längst geht es nicht mehr nur um Männer mit diagnostizierter erektiler Dysfunktion jenseits der 60, sondern zunehmend um sehr viel jüngere Männer. Männer, die das Mittel „mal zum Spaß“ ausprobieren und dann drauf hängenbleiben. Männer, die „richtig performen“ wollen. Männer, die sich eingeschüchtert fühlen und glauben, performen zu müssen, obwohl sie ihre Partner*innen nie gefragt haben, ob diese Art Performance überhaupt erwünscht ist.

Diese Zielgruppen wurden auch deshalb erreicht, weil der Wirkstoff in Ländern wie Großbritannien, Polen, Schweiz, Schweden u.a. nicht mehr rezeptpflichtig ist. Der möglicherweise beschämende Praxisbesuch entfällt also ebenso wie die gefühlte Notwendigkeit, auf Links in E-Mails mit erwähntem Betreff für „kräftige Männer“ zu klicken. Auch in Deutschland könnte Sildenafil bald rezeptfrei werden: Im Januar 2022 wird der Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht darüber entscheiden. Mit dieser Entscheidung wird uns allerdings nicht die gesellschaftliche Debatte erspart, die wir unbedingt führen müssen – im Gegenteil: Sie wird noch viel dringlicher. Eine Debatte, in der wir endlich mal darüber sprechen, warum wir Sexualität immer noch so penisfixiert und erektionsabhängig wahrnehmen. Warum wir in einer hypersexualisierten Welt so wortlos mit Sex umgehen, dass der erigierte Penis immer noch als Nachweis von Begehren und Notwendigkeit für sexuelle Handlungen geht. Wenn wir nicht miteinander reden, wird mit unserer Wortlosigkeit Geld gemacht. Und mit den Ängsten von Männern. Auf denen lässt sich nämlich wie auf einem Klavier spielen. Deshalb wirbt Pfizer für sein Produkt heute nicht mehr wie 1998 mit dem damals 75-jährigen Präsidentschaftskandidaten Bob Dole, …

… sondern so: Der Konzern Viatris (ein Joint-Venture von Pfizer und Mylan) preist in Großbritannien Viagra Connect mit einem animierten Liebespaar in seinen Dreißigern oder Vierzigern an, dem „das Leben der Liebesgeschichte nicht in den Weg geraten soll“.

Aber eine Pille löst nicht die Probleme, die das Leben auftürmt. Sie überdeckt nur den Stress, den Erwartungsdruck, die Versagensängste und viele andere Dinge mit einer Erektion. Um „dieses Weihnachten mit Selbstbewusstsein zusammenzukommen“, wie der Hersteller verspricht. Doch in Wahrheit fallen wir nicht auseinander, weil Männer womöglich keinen hoch kriegen. Wir zerschellen daran, dass wir stereotype Liebesgeschichten und heteronormative, schwanzfixierte Sexerwartungen zu erfüllen haben und das Leben alles andere als einfach ist. Dagegen gibt es keine Pille.

Wenn wir in unseren Texten von Frauen und Mädchen sprechen, beziehen wir uns auf die strukturellen und stereotypen gesellschaftlichen Rollen, die alle weiblich gelesenen Personen betreffen. Ebenso verhält es sich mit Jungen und Männern.

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Bildquelle: Myriam Zilles/Unplash